Making-of: Die Geschichte über die Entstehung des Buches „AM ENDE Frieden“

Im Sommer 2023 entstand ungeplant und innerhalb sehr kurzer Zeit ein Büchlein, das sich mit einem schwierigen Thema beschäftigt: Dem Tod der Mutter. Fünf Frauen erzählen darin über das Leben und das Sterben der eigenen Mutter und der Zeit danach. Was dabei herausgekommen ist, überraschte selbst die Autorinnen.

Begonnen hatte alles in einem Schreibforum, dessen Mitglieder sich das erste Mal sahen. Eine Frau erzählte, sie habe schon immer gerne geschrieben, aber erst seit dem Tod ihrer Mutter schreibe sie regelmäßig. Viele nickten und berichteten davon, wie sie in den allerschwierigsten Wochen und auch danach sehr viel geschrieben hätten. „Sollte man diese Geschichten nicht auch anderen zugänglich machen?“, dachte ich kurz. Der Gedanke an heilsame Texte in verschlossenen Schubladen kam mir an diesem Tag immer wieder in den Sinn. Erst eine Woche vorher, zu Pfingsten, hatte mich ein solcher Text meiner Schreibfreundin Ulrike sehr berührt. Der Tod meiner eigenen Mutter war da noch kein halbes Jahr vorüber. Ich wusste auch von meiner Schulfreundin Anneliese, wie außergewöhnlich ehrlich und gleichzeitig einfühlsam sie über die Todesstunde von lieben Menschen schreiben kann; sie hatte zweimal einen Mann verloren, ihre Mutter und all ihre Geschwister. So nahm die Idee Gestalt an, nur wenige Tage, nachdem sie sich in meinem Kopf eingenistet hatte.

Nun bezog ich andere mit ein, nicht nur Frauen. Es gab spontane Zusagen und auch einige Absagen. Vier Autorinnen waren bereit, je zwei zu jener Zeit entstandenen Texte beizutragen. Sie ergänzten sich auf wunderbare Weise. Wir spürten: Da entsteht etwas Gutes.

Plötzlich kam eine neue Dynamik auf: Ulrike wollte in Briefen aus dem Nachlass ihrer Mutter nachlesen und fand sie nicht mehr. Wahrscheinlich hatte sie die entscheidenden Briefe an einen besonderen Platz gelegt, aber jetzt fand sie sie nicht mehr. In diesen Briefen hatte ihre Mutter beschrieben, wie es für sie damals gewesen war, als sie ungewollt schwanger wurde und alle Hebel in Bewegung setzte, um dieses Kind nicht zu bekommen. Plötzlich war Ulrike wieder mitten in einer neuen Phase der Aufarbeitung der Beziehung zu ihrer Mutter. Sie schrieb sich alles von der Seele. Das Ergebnis umfasste fast neunzig Seiten. Die Anthologie sollte jedoch nur um die einhundertzwanzig Seiten haben. Ulrike konnte nicht kürzen. Es war ihr unmöglich. Nun stand alles auf der Kippe. Ohne Ulrikes Beiträge hätte dem Werk etwas Wichtiges gefehlt. Doch die gesamte Geschichte, hätte die Vielfalt erdrückt.

Irene, die vierte Autorin im Bunde, öffnete die Tür zur Lösung. Sie konnte die Anerkennung für die schwere innere Arbeit von Ulrikes Seele in die passenden Worte fassen. Mit diesem Mitfühlen löste sich ein Knoten. Eine neue Idee tat sich auf. Ulrike war wieder mit im Boot.

Als der Titel bereits feststand („Am Ende Frieden“) fühlte sich eine fünfte Autorin angesprochen. Sie brachte eine neue Perspektive ein: Wie sich ihre Mutter gefühlt hatte, die nach einem arbeitsreichen Leben untätig im Seniorenheim wartete, dass die Zeit verrinnt. Das war der eine Text. Ihr zweiter unterschied sich deutlich von diesem ersten. Er war in einer Sprache geschrieben, die sich sichtlich um eine objektive Berichterstattung bemühte. Irgendwann sagte sie im Gespräch: „Ja, vielleicht ist es so, dass ich immer noch beschönige, was sich ereignet hat.“ Sie setzte sich noch einmal neu an ihren Schreibtisch und am Ende sagte sie: „Du weißt gar nicht, wie befreiend das noch einmal war.“ All das ereignete sich fünfzehn Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, kurz vor dem exakten Todestag und kurz vor ihrem eigenen runden Geburtstag. Endlich war Frieden.

Ich erstellte aus allen Beiträgen das Gesamtmanuskript. Sehr schnell war klar: Wie die Mütter gestorben sind, hatte viel damit zu tun, wie sie gelebt haben. Alle beschriebenen Mütter hatten ein hohes Alter erreicht. Sie waren Stellvertreterinnen einer Generation von Frauen, die ihr Leben aufgeopfert haben für ihre Lieben. Doch wie war das bei den Töchtern weitergegangen? Alle Beiträge waren von großer Wertschätzung getragen für die Opfer der Mütter. Hatten sie selbst diesem Frauenbild und dem Zurückstellen eigener Interessen nachgeeifert und wenn nicht, wie erging es ihnen damit? Um es vorwegzunehmen: Alle Autorinnen haben etwas verwirklichen können, was ihren Müttern nicht möglich war. Doch die anstrengende Befreiung aus den Rollenzwängen wurde in der Todesstunde bei allen noch einmal hochgespült.

Die Intensität der ehrlichen Texte, denen man anmerkte, dass sie direkt vom Herzen in die Feder geflossen waren, war enorm. Manchmal lasen wir uns die Texte gegenseitig vor, hatten Tränen in den Augen und waren gleichzeitig dankbar für das Erzählen. Alle konnten mit der anderen mitfühlen und alle hatten Ähnliches erlebt.

Irgendwann hatte ich die Befürchtung, das Lesen könnte für unvorbereitete Leserinnen zu viel sein. Vermutlich würden sich ja vor allem Betroffene für unser Werk interessieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Buch längst so etwas wie ein Eigenleben entwickelt. Die Stimme des Buches sprach: „Es fehlt noch etwas, das alles abrundet. Es wird kommen.“

Dann kam die Idee auf, jede Autorin möge eine dritte Geschichte schreiben, nämlich wie das Schreiben ihr geholfen hat, Frieden mit der Mutter zu finden. Die einzelnen Beiträge gingen ja ganz offensichtlich weit über Trauerbewältigung oder das Ordnen von Gefühlen und Gedanken hinaus. Diese neu entstandenen Texte finden sich im Anhang. Sie schließen den Bogen und runden das Verständnis über die Bedeutung des Aufschreibens und Geschichtenerzählens noch einmal ab. Es fühlte sich so an, als wäre damit das letzte Kapitel geschrieben.

Margit Thürauf © 25.07.2023

AM ENDE Frieden – Fünf Frauen erzählen über das Leben und das Sterben ihrer Mutter. ANTHOLOGIE

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