Bunte Klarheit der späten Jahre

Leseprobe Band 1

Kapitel 1 und 2

(1) Zwischenstopp in Zürich

Wie fühlt es sich an, wenn man denkt, es ist noch lange hin bis zum Ruhestand und dann ist er schon da? Für Rena ist es, als hätte man ihr ohne Einweisung einen Fallschirm umgeschnallt und sie aus dem Flugzeug gestoßen. Der Landeplatz? Unklar. Sicher ist nur: Nicht dort, wo sie bisher gelebt hat. Wie sie gelandet ist, weiß sie nicht. Ihre Überlebensreflexe haben funktioniert. Nun steht sie da und muss sich erst einmal neu orientieren. Den Fallschirm abschnallen und sich umschauen, in welche Richtung es weitergehen könnte.

„Magst du allein mit uns nach Nizza fliegen?“, fragen ihre Bekannten. Und sie sagt nicht nein. So einfach ist manchmal der erste Schritt.

Ihre Freundin Christine fragt, ob sie auf dem Flug nicht einen Zwischenstopp in Zürich einlegen möchte und eine Nacht bei ihr bleibt. „Bei uns ist schon richtig Frühling. Komm doch. Ich hole dich am Flughafen ab.“ Rena weiß, dass reden hilft. In Nizza möchte sie nicht reden. So gut kennt sie die Bekannten nicht. Mit Christine ist es immer sofort so, als hätten sie sich gestern gesehen.

Ihr erster Weg führt die beiden in ein Café am See. Die Natur, der Ausblick, die warme Luft lassen Renas Herz aufgehen. Befreites Durchatmen. Christine hat sich einen Kuchen bestellt und genießt. Mikroskopisch kleine Stücke zum dreifachen Preis wie gewohnt. Renas Herz geht wieder zu. Sie sieht sich die Menschen um sich herum an. Es sind fast ausschließlich Rentner. „So möchte ich nie werden!“, rutscht es ihr heraus. Christine schaut sich um. „Du meinst, wie die Frau, die ihrem Mann Reiterlein schneidet? Es sieht nicht so aus, als hätte er etwas an der Hand“, amüsiert sie sich und fährt dann fort: „Auf den ersten Blick kann man kaum unterscheiden, wer das Männchen und wer das Weibchen ist.“ Rena weiß: Von der Zahl her ist sie nicht weit weg von den Leuten um sie herum. Nur ihr Gefühl dazu ist ganz anders, als das, was sie sieht. Zu Christine, die mehr als zehn Jahre jünger ist, fühlt sie keinen Unterschied.

„Von innen fühlt sich das Leben anders an, als es von außen aussieht“, denkt Rena. Genau genommen kennt sie niemanden in ihrem Bekanntenkreis, der sich nicht jünger fühlt, als er ist. Erst wenn Senioren in Grüppchen auftreten, wird ihr das wenig anziehende Bild eines typischen Rentnerdaseins bewusst. Es ist in der Schweiz kaum anders, als in Deutschland.

„Wir sind gerade voll in der Projektion“, reißt Christine sie aus ihren Gedanken heraus. Sie ist Psychologin und erklärt: „Alles, was wir ablehnen, projizieren wir auf andere. So stehen wir selbst besser da.“ Rena nickt. Ihr ist das Verhaltensmuster klar. Christine fährt fort: „Die aufgebrezelten Damen könnten ja auch Schriftstellerinnen sein, die auf dem Rückweg von einer Verlagsbesprechung spontan ein wenig Einkaufen waren.“

„Und schon würde ich sie beneiden. Neid macht Wünsche klar!“, erwidert Rena.

(2) Abend mit Christine

Den Abend verbrachten die beiden Frauen vor dem offenen Kaminfeuer in Christines Wohnung. „Und dein Mann ist wirklich bereits bei seiner Freundin eingezogen?“, fragte Christine interessiert „Ja, mit Sack und Pack. Ab nächsten Monat habe ich auch eine neue Wohnung. Dann werde ich mir die Möbel aus dem Haus nehmen, die ich haben will und den Rest weggeben. Und ganz neu anfangen.“ „Du wirkst gar nicht traurig, dass das so ist“, meinte Christine. „Doch! Ich bin wütend und traurig und verletzt. Nur nicht immer“, sagte Rena. „Und ich weiß nicht, was mich wütender gemacht hat: Dass sie mir in der Schule den Stuhl vor die Tür gestellt haben, oder dass Max sich getrennt hat. Ich weiß es wirklich nicht.“ „Es war beides ziemlich derselbe Zeitraum. Ihr habt geheiratet, als dein Referendariat zu Ende war und ihr habt euch getrennt, als ihr beide in Ruhestand gegangen seid“, sagte Christine scharfsinnig. Rena schwieg.

„Gut, dass du jetzt erst einmal nach Nizza fliegst und es dir dort gutgehen lässt“, fuhr Christine mit einem unverfänglicheren Thema fort. „Wie hat sich das eigentlich ergeben, dass du mit deinen Nachbarn deinen Geburtstag dort verbringen willst?“ „Wir haben alle vier im Mai Geburtstag und schon vor längerer Zeit eine gemeinsame Feier in Nizza geplant. Im Grunde waren nur die beiden Männer miteinander befreundet. Sie haben gerne gekocht. Wir Frauen waren nie richtige Freundinnen.“ Jetzt erst wurde Rena bewusst, auf welches Abenteuer sie sich da eingelassen hatte. „Also, wenn es hart kommt, dann tauche ich wieder bei dir auf und heule mich aus“, sagte sie. „Jederzeit gerne. Ich könnte vielleicht auch ein paar Tage nach Nizza kommen und dich besuchen. Mal sehen, ob ich mir freinehmen kann und was Simon dazu sagt.“

Rena ging vieles gleichzeitig durch den Kopf. Sie hatte immer getan, was sie wollte, ohne ihren Mann zu fragen und sie hatte immer ihr eigenes Geld verdient. Was sich jetzt als besonders günstig erwies; so konnte sie ihr neues Leben ohne finanzielle Sorgen angehen. Sie freute sich auf die Auszeit in Nizza. Die Stadt kannte sie noch nicht, aber Lenhart und Katharina kannten sich gut aus. Und die Reise war auch eine gute Gelegenheit, um ihr Französisch aufzupolieren.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fühlte sie sich frei und erleichtert. Es war ihr immer klar gewesen, dass sich ein Leben innerhalb weniger Tage durch einen Schicksalsschlag total wenden kann. Es gab kein Abonnement auf beständige Glücksgefühle. Nun hatte sie zwar keine Krankheit und keinen Todesfall erlebt, aber es reichte durchaus, was da zusammengekommen war. Trotzdem gestand sie sich ein: Wäre nicht alles auf einmal passiert, dann hätte sie der Sog des Alltags wahrscheinlich wieder eingelullt und alles wäre beim Alten geblieben. In ihrem Leben hatte sich aber unbedingt etwas ändern müssen! Sie machte sich nichts vor: Nicht die äußeren Umstände waren schuld, für den Umbruch. In ihrem Leben stand einfach eine Veränderung an – und zwar eine grundlegende!

„Hab keine Angst, dass du jemals so wirst, wie die Leute heute Nachmittag“, meinte Christine. „Du bist schon immer anders und wirst auch anders sein, wenn du mal älter bist. Dann bist du mein Role-Model!“

(Ende der Leseprobe aus Band 1)

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