Bewusstes Leben – Lyrik und Geschichten

Die Geschichte von Lili

Ein Erzählgedicht in neun Kapiteln

(1)

Lili ist 65 und geht in Rente. Ihre Eltern haben ihr ein Haus vermacht. Ihre Kinder wohnen weit weg. Sie lebt allein in ihrem Kindheitsdorf, in dem sie kaum noch jemand kennt. Ihr einziges Interesse gilt der Spiritualität. Sie liest viel, meditiert viel, geht kaum aus dem Haus. Ihr Körper macht nicht mehr recht mit. Mit kaum jemanden kann sie sprechen. Sie lebt wie der zuletzt verbliebene Mönch in einem Kloster. Alles Äußere wächst ihr über den Kopf.

Nur mit ihrem Nachbarn Jürgen unterhält sie sich ab und zu. Einmal kommen sie auf Spiritualität zu sprechen. Was sie darunter versteht? Nach einigem Überlegen antwortet sie: „Dass das Geistige wichtiger ist als das Äußerliche. Dass ich versuche mich anzunehmen, so wie ich bin.“ Da sagt Jürgen zu ihr: „Und dein Gott will, dass du dich lebendig vergräbst?“ Entrüstet geht Lilli ins Haus zurück. Und versteht doch so viel, dass sie weiß: Wenn sie etwas betroffen macht, ist ein Fünkchen Wahrheit dran.

Als sie die Welt nur noch
durch den spirituellen Filter wahrnimmt
und nicht mehr direkt fühlen kann
verliert sie den Kontakt zu ihrer Mitte.

(2)

Lili denkt über sich nach. Über ihre Vergangenheit, was gerade mit ihr passiert und wo das alles hinführen wird. Sie hat viele Erklärungen im Kopf. Ihr Denken führt zu nichts. „Wer bist du ohne deine Geschichte?“, liest sie in einem Buch. „Eine einsame alte Frau“, ist ihre ehrliche Antwort. Sie schluchzt tief und weint, weint, bis keine Träne mehr da ist. Das Gefühl des Alleinseins und dass sich niemand um sie kümmert, begleitet sie ihr Leben lang. Es tut so weh. Und jetzt ihre Krankheit. Mit niemandem kann sie darüber sprechen. Trotzdem tut es ihr gut, ihre Gefühle einmal zuzulassen. Sie wird ruhiger.

Als ihr ihre Situation voll bewusst wird,
fließen lange zurückgehaltene Tränen.
Danach stellt sich Frieden ein. Und Stille.
Das Innere kommt zur Ruhe.

(3)

Auch die Frage Jugend – Alter treibt sie um. Wenn sie in den Spiegel schaut, sieht sie ganz anders aus, als sie sich fühlt. Ihren Körper mag sie sich seit langem nicht mehr ansehen. Den Wunsch nach einer liebevollen Partnerschaft blendet sie aus. Einmal nimmt sie all ihren Mut zusammen, stellt sich nackt vor einen Spiegel und schaut sich an. Ihr wird bewusst, wie sie zu ihrem alternden Körper steht: ablehnend und abwertend. Verzweiflung macht sich in ihr breit, denn sie weiß keinen Ausweg.

Auch wenn ihr Körper alt ist,
so kann doch Güte hindurchscheinen,
Freundlichkeit, ein inneres Leuchten.
Herzlichkeit hat eine anziehende Wirkung.

Lili lässt los

(4)

Lili achtet wieder mehr auf ihre Gefühle und Gedanken. Jeden Morgen und jeden Abend schreibt sie darüber. Sie schreibt nur auf, was sie empfindet und was ihr durch den Kopf geht, ohne zu bewerten und ohne Erklärungen. Schreiben verlangsamt und ordnet ihre Gedanken.

Erleichternd empfindet sie diese Praxis nicht immer. Ihre Misere ist ihr bewusster denn je. Und sie kann nichts tun. In manchen Stunden macht sie ihr Gedankenkarussell ganz verrückt. „Ich weiß nicht, wer ich bin, ohne meine Arbeit, ohne Menschen, hier allein. Ich fühle mich so armselig!“, gesteht sie sich ein.

Auch wenn Lili Rückschläge empfindet,
kommt sie auf ihrem Weg voran.
Sie rechtfertigt und erklärt nichts mehr.
Sie fragt sich, wer sie ist und was sie will.

(5)

Obwohl die Umstände noch gleich sind, gewinnt eine Frage für Lili immer mehr Bedeutung: Wie will sie stattdessen leben? Wo sie leben will, ist ihr im Grunde egal. Sie arbeitete in einem pflegerischen Beruf und war ihr Leben lang für andere da. Das will sie nun nicht mehr. Was sie will, weiß sie trotzdem nicht. Am meisten Lust hat sie im Moment zum Aufräumen und Ausmisten. Sie empfindet es wie eine Botschaft an ihr Unterbewusstsein, dass sie bereit und frei für einen Neuanfang nach ihren eigenen Bedürfnissen ist.

Aus dem bewussten Annehmen
dessen, was ist,
entstehen ganz andere Gedanken und
Handlungen als aus Erklärungen heraus.

(6)

Nachbar Jürgen meint zu ihrer Entscheidung lakonisch: „Das hättest du auch leichter haben können, wenn du von Anfang an nachgedacht hättest.“ Lili sagt: „Mit dem Verstand wäre ich nicht an diesen Punkt gekommen, an dem ich heute stehe. Ich musste es erleben.“ Das verstand auch Jürgen. Er war zweimal verheiratet, aber es hatte sich nichts Wesentliches geändert, auch wenn die Ehen äußerlich ganz anders verlaufen waren. „Und was hast du jetzt vor?“ „Ich weiß es noch nicht. Aber ich freu mich auf das, was auf mich zukommt.“

Der nicht gefühlte Schmerz
des Alleingelassenseins
musste erst gefühlt werden
um heilen zu können.

Lili orientiert sich neu

(7)

Seit sie auf ihren Körper achtet und darauf hört, was er ihr empfiehlt, fühlt Lili mehr Kraft. Als ihre Kinder merkten, dass es ihr mit dem Hausverkauf ernst ist, melden sie Ansprüche an. Sie brauchen Geld. Spontan verspricht Lili, so viel wie irgend möglich an sie weiterzugeben. Doch in ihr baut sich zunehmend innerer Widerstand auf. Sie ist hin- und hergerissen. Wenn sie einmal in einer Notsituation wäre, bräuchte sie Geld. Die Kinder wollte sie nicht damit belasten. Die ganze Situation bringt sie so unter Druck, dass sie krank wird. Sie muss sogar ins Krankenhaus. Dass ein Zusammenhang zwischen ihrer Krankheit und ihrem Stress besteht, ist ihr klar. Allerdings nicht, wie sie der Situation begegnen kann. Ihre Bettnachbarin, eine ältere Frau, hört ihr zu und bringt die Sache auf den Punkt: „Sie möchten endlich für sich selbst sorgen und haben trotzdem reflexartig ihren Kindern ein Versprechen gegeben, dem ihr Gefühl widerspricht. Jetzt wollen sie sich zwingen, dieses Versprechen einzuhalten. „Ja, versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen.“ „Nein“, sagt ihre Bettnachbarin. „Solche Regeln haben Sie dahin geführt, wo Sie heute stehen. Sie wissen, was Sie wollen und dem sollten Sie folgen.“

Warum verstärkt Widerstand ein Problem?
Weil alles größer wird,
worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist.
Aus einem beruhigten Bewusstsein heraus
sieht die Welt ganz anders aus.

(8)

Nun kümmert sich Lili um sich und ihre Gesundheit. Ihre Kinder reagieren nicht erfreut auf ihre Absage. Es kommt zu Anklagen und Anschuldigungen. Sie allein sei schuld daran, dass sie nichts mit ihrer Mutter zu tun haben wollen. Es gelingt Lili, sich nicht davon beeindrucken zu lassen. Vielleicht gelingt es ihr, weil sie die Vorwürfe schon so oft gehört hat und sie weiß, dass es nicht so simpel ist, wie ihre Kinder ihr vorwerfen. Und dass ihre Kinder das selbst wissen.
Lili gelingt es, keinen Widerstand aufzubauen,
indem sie bei sich bleibt und
sich auf sich konzentriert.

(9)

Der Hausverkauf läuft einfach, ihr Nachbar will das Grundstück kaufen, um seinen Garten zu vergrößern. Das alte Haus will er abreißen lassen. Lili nimmt das Angebot an und zieht zurück in die Nähe ihres ehemaligen Arbeitsortes, nur ein Tal und einen Landkreis weiter. Dort findet sie in einem Hinterhaus in einem Garten eine Zuflucht, die ganz nach ihrem Geschmack ist. Sie kann sie sich eine Katze zulegen. Und sie kann sich eine HangDrum kaufen und üben. Sie stellt sich vor, wie die Klangschalentrommel auf ihrem Schoß liegt und sie ihr mit den Händen wundervolle Klänge und Vibrationen entlockt. Dieses Musikinstrument betörte sie seit langem.

Es ergeben sich neue Möglichkeiten.
Das Bild ihres neuen Lebens
wird bereits erfahrbar.

© 15.02.2024

Gebundenes Buch, Hardcover 80 Seiten, 18 EUR

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