Franziskas letzte Reise
Im ersten Licht eines Aprilmontags schloss Franziska Hebendanz die Haustüre für immer hinter sich zu und stieg in ihr Auto. Sie hatte vorher noch einmal überprüfen lassen, ob es eine zweitausend Kilometer lange Reise pannenfrei überstehen würde. Es war der Tag ihres achtzigsten Geburtstags im Jahr zweitausendfünfunddreißig und sie gedachte nicht, jemals in ihr Haus zurückzukehren.
Fast zwanzig Jahre war sie keine weite Strecke mehr gefahren. Weil sie Autobahnraststätten meiden wollte, hatte sie eine Liste kleinerer Orte entlang der Route vorbereitet; dort konnte sie Pausen einlegen. Noch war es nicht so weit. Noch war ihr die Landschaft vertraut, die typischen Rapsfelder, deren Gelb bald von Obstbaumgebieten abgelöst wurde, weißen Kirschblüten, rosafarbenen Apfelblüten – alles noch vertraute Postkarteneindrücke ihrer Heimat, von der sie nun Abschied nahm. Seit jeher erweckte das besondere Licht der Frühlingssonne ihre Lebenssäfte. Beim ersten Zwitschern werbender Vogelpärchen und wenn die zartweißen Buschwindröschen an einem einzigen Tag den braunen Waldboden mit einem weißen Teppich überzogen, vollzog sich auch in ihr ein Wandel. Erlebte ein Mensch, der im Frühling geboren war, die Welt anders als ein Novemberkind? Für sie war ihr Geburtstag regelmäßig wie das Erwachen aus einem Winterschlaf. Das hatte nie aufgehört und in diesem Jahr war der innere Druck besonders mächtig.
Die Landschaft wurde unbekannter. Ein Autobahnschild kündigte die erste Rastmöglichkeit an. Franziska lenkte ihren Wagen auf die Ausfahrt zu, steuerte einen Schlosspark in der Nähe an und stellte das Auto auf dem Parkplatz ab. Aus dem Kofferraum nahm sie einen Korb mit einer Decke, einer Thermoskanne und einer Brotzeit. Ihr Weg zum Park führte sie an einem Flüsschen entlang, weit hinten entdeckte sie eine Bank in der Sonne. Kirchenglocken läuteten zum Mittag. Dann war es wieder still. In der Ferne hörte sie eine Kinderstimme. Franziska breitete ihre Decke auf der Bank aus, nach der Stärkung wollte sie ein Nickerchen machen. Was die Leute dachten, kümmerte sie schon lange nicht mehr.
Eine Stunde später fuhr sie weiter. Eine Etappe würde sie an diesem Tag noch schaffen. Für den Abend hatte sie ein Zimmer bestellt. Sie konnte die Reservierung bis achtzehn Uhr stornieren, doch heute würde es passen.
Erst im letzten Moment vor dem Auffahren auf die Autobahn, erkannte sie den stockenden Verkehr. Auf der rechten Spur reihte sich Lastwagen an Lastwagen, eine Lücke war kaum zu finden. Sie setzte mutig ihren Blinker und scherte ein. Würden die Sensoren der selbstfahrenden Gigaliner ihren kleinen, altmodischen Wagen erkennen? Wahrscheinlich besser als ein übermüdeter Fernfahrer im Führerhaus. Dichter Verkehr auf drei parallelen Spuren – und auch nach zehn Minuten hatte sie keinen Menschen am Steuer gesehen. Alle Fahrzeuge fuhren automatisch. Mehr und mehr vertraute sie dem gespenstischen Dahingleiten.
Dann verringerte sich das Tempo aller Autos gleichzeitig auf allen Fahrspuren. Ein Unfall? Eine Kontrolle? Letzteres. Was oder wen sie wohl suchten? Langsam kam sie dem Kontrollpunkt näher. Als sie an der Reihe war, ließ sie die Fensterscheibe herunter und sagte zum Polizisten „Grüß Gott!“ Er sah sie irritiert an. Führerschein und Fahrzeugpapiere wollte schon lange niemand mehr sehen; alle Angaben konnten auf einem Display abgerufen werden. „Sind Sie Frau Hebendanz, die Halterin dieses Fahrzeugs?“
„Ja.“
„Wohin reisen Sie?“
„Ich besuche Freunde.“
„Sie sind nun vierhundert Kilometer von ihrem Wohnsitz entfernt. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das in Ihrem Alter und mit Ihrem Fahrzeug gewisse Gefahren birgt, für Sie selbst und für die Gemeinschaft.“
„Danke, ich weiß“, antwortete Franziska. Sie hatte gelernt, solchen Fragen auszuweichen und keinen Widerstand zu leisten.
„Wie weit fahren Sie heute noch?“
„Bis Neuenwörth. Dort habe ich ein Hotelzimmer reserviert.“
Der Polizist tippte auf seinem Display herum und prüfte die Buchung. „Okay“, sagte er. „Go ahead.“
Langsam dämmerte es. Franziska setzte eine Brille mit gelben Gläsern auf, die blendende Scheinwerfer mildern. Im Hotel angekommen checkte sie mit ihrem Reservierungscode ein. Sie begegnete keiner Menschenseele, hörte nur hin und wieder eine Türe, die geöffnet und wieder zugezogen wurde. Als sie im Zimmer frische Luft hereinlassen wollte, erschrak sie. Hinter ihr ertönte eine Stimme. Ein Monitor hatte sich eingeschaltet und empfahl ein frisch zubereitetes Abendessen, das sie aufs Zimmer bestellen konnte. Es gab kein Restaurant im Haus. Sie wählte Salat, Früchte und Couscous. Kurz darauf klingelte es.
Ein weißer Serviceroboter sagte: „Willkommen! Schön, dass Sie hier sind! Ich bringe Ihnen Ihr Essen. Öffnen Sie bitte das Fach, um es herauszunehmen.“
Franziska war den Umgang mit Robotern nicht gewohnt. Fast hätte sie den niedlichen Gesellen hereingebeten, entschied sich dann aber anders.
„Guten Appetit!“, sagte er, als sie ihre Bestellung entnommen hatte. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
„Nein danke“, antwortete Franziska. „Für heute nicht.“
„Vielen Dank! Ich kehre jetzt zur Station zurück“, sagte er, drehte sich um und rollte zum Aufzug.
Dasselbe wiederholte sich zum Frühstück. Der Vorteil war: Sie bekam bereits um fünf Uhr früh frisch gebrühten Kaffee. Dem Roboter war die Uhrzeit egal.
Am zweiten Tag ihrer Reise fuhr sie fast durchgehend an einem breiten Strom entlang. Am Abend erreichte sie seine Mündung und einen Fährhafen. Den restlichen Teil ihrer weiten Reise würde sie mit einem Schiff zurücklegen. Ob es ebenfalls ohne Kapitän und ohne Besatzung auskam? Exakt so war es! Alle Fahrzeuge wurden – wie in einer Autowaschstraße – automatisch auf die Fähre bewegt und exakt eingeparkt. Auch auf dem Schiff checkte Franziska per Code in ihrer Kabine ein. Die Türe ging auf – aber nicht mehr zu. Erst nach wiederholten Versuchen konnte sie sie schließen. Innen war alles sauber. Roboter konnten gut putzen. Schon setzte sich das Schiff in Bewegung. Sie fühlte sich dem Funktionieren der Technik ausgeliefert.
Franziska hatte Hunger. Zimmerservice kostete Aufpreis. Sie wollte sich ohnehin erst einmal auf dem Schiff umsehen und ging auf das windgeschützte Achterdeck. Dort setzte sie sich an die Reling und beobachtete, wie das Schiff den Fährhafen verließ. Lange konnte sie die ockergelbe Farbe des Flusswassers vom gräulichen Farbton des Meeres unterscheiden.
„Herzlich willkommen an Bord. Schön, dass Sie hier sind“, ertönte es hinter ihr. Sie drehte sich um, erwartete einen Serviceroboter, vielleicht diesmal als Stewart verkleidet.
„Ich freue mich, liebe Franziska, Sie hier zu treffen“, fuhr die Stimme freundlich fort. Der Tonfall war ihr vertraut. Sie hatte ihn in den letzten Wochen oft gehört, wenn auch nur via Bildschirm.
„Viktor! Was für eine Freude! Ich wusste garnicht, dass Sie auch auf diesem Schiff sind. War das so geplant? Oder wollten Sie mich überraschen?“
Viktor beobachtete, wie sie mit Schwung von der Bank aufstand. Ihre Bewegung hatte etwas Federndes, Ungezwungenes – und dann diese dunkle Stimme. In Wirklichkeit war sie viel tiefer als er sie in den Videokonferenzen wahrgenommen hatte. Und in Wirklichkeit war sie viel lebendiger, als sie äußerlich erschien.
„Nein, das war eine spontane Entscheidung“, antwortete er. „Gestern früh bin ich aufgewacht und wusste einfach: die Stunde des Aufbruchs ist gekommen.“
Franziska nickte. “Fiel es Ihnen leicht?“, fragte sie. Viktor war gefesselt von ihrer Stimme; unverkennbar war sie, bestimmt, jugendlich. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte sie auf Anfang sechzig geschätzt.
„Ja, erstaunlich leicht!“, antwortete er.
Franziska nickte bestätigend.
„Ich bin der Ältere. Darf ich Ihnen das Du anbieten?“, fragte er.
„Sehr gerne! Es ist sowieso höchste Zeit dafür! Ich wollte gerade etwas essen gehen. Kommst du mit?“
Mit einer geschmeidigen Bewegung wandte sie sich zum Gehen. Doch in ihrem Kopf ratterte es. Viktor war das erste zugewandte Wesen seit … ja seit wann eigentlich? Seit ihrer Abreise? Seit ihr Mann gestorben war? Ihre täglichen Spaziergänge in der Natur, bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit, waren das Lebendigste gewesen, das sie lange Zeit erlebt hatte.
Viktor folgte ihr. Ihre langen weißen Haare flatterten; ihre Frisur wirkte ein wenig rebellisch und doch strahlte Franziska Harmlosigkeit aus. Harmlosigkeit und Harmonie. Sogar Humor.
Im Vorausgehen war es Franziska, als würde sie Viktors Gedanken auffangen. Sie hätte dieselben Worte für seine Beschreibung gewählt: harmlos und harmonisch. Ob humorvoll, musste sich erst noch herausstellen. Wo es äußerliche Parallelen gab, gab es vermutlich auch innere.
„Gehen wir nach unten?“, fragte sie.
Wegen der stickigen Luft unter Deck kehrten sie dann schnell zurück auf das Achterdeck. Sie fanden einen windstillen Tisch in der Mitte. Über einen QR-Code orderten sie per Handy ein Menü – zweimal vegetarisch. Kurze Zeit darauf erschien ein kleiner weißer Serviceroboter. Franziska wusste, was zu tun war, öffnete ein Fach und entnahm die Speisen und eine Flasche Wasser.
„Warum hast du dich eigentlich gerade jetzt aufgemacht?“, fragte Viktor, für den der Roboter ganz selbstverständlich zu sein schien. „Gab es bei dir einen konkreten Anlass?“
„Nein nicht direkt“, antwortete sie und wartete, bis der elektronische Geselle weitergefahren war. „Ich habe es ja schon einmal erzählt: Ich habe darum gebetet, irgendwann sanft und bewusst von dieser Welt zu gehen. So, wie sich früher in Naturvölkern Menschen zurückgezogen haben, wenn es an der Zeit war. Irgendwann wurde mir klar: Solange ich im Stillen gegen mein Alter ankämpfe und gegen meinen alternden Körper Krieg führe, wird nichts draus.“
Sie sah ihn an.
„Dann traf ich auf euch. Ein Mysterium – gewiss – und doch wusste ich: Die Zeit war reif, mich an einem anderen Ort einzufinden. Nicht um zu sterben. Sondern um auf meine Weise alt zu werden. Ich wusste, es ist ein Platz an einem Meer im Norden, wo ich gemeinsam mit Gleichgesinnten wie euch leben kann. Ich habe lange geglaubt, ich würde irgendwann einfach sterben. Aber dann wurde mir klar: Ich muss erst eine alte Haut abstreifen, sonst kann ich nicht in Frieden gehen.“
Viktor sagte nichts. Für ihn wie für sie, der Frau, die er kaum kannte, und für die anderen, denen sie noch begegnen würden, war alles, was vor ihnen lag, ein letztes großes Abenteuer.
Er schwieg – so lange, bis sich ihm eine Frage aufdrängte: „Warum hast du das nicht in deinem alten Zuhause tun können?“
Franziska schaute ihn an und sagte: „Du weißt es selbst. Du musst dich fernhalten von allem, was dir nicht guttut. Manche Erinnerungen taten mir nicht gut. Ich wollte mich mit Menschen umgeben, die mich stärken. Und ich brauchte Natur – möglichst viel davon und möglichst unversehrt. Natur brauchte ich mehr als ein nahes Krankenhaus.“
Sie sprach nicht weiter, sondern blickte auf die näherkommende Küste und lächelte verschmitzt. Nicht das Ende ihrer Tage trieb sie an. Es war eher die Lust, etwas zu tun, das nicht vorgesehen war. Noch gab es kein Gesetz, das alten Frauen verbot, aus alten Mustern auszubrechen. Solange das so war, gab es Raum für eine andere Art von Geschichte.
Vielleicht blühten am Meer keine Buschwindröschen. Aber wenn sie Glück hätte, gäbe es dort eine geheime Blüte – eine, die sich nur öffnete, wenn man nach ihr suchte.
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