Haag liebte die digitale Welt. Er öffnete sogar seine Haustüre mit dem Handy. Bei einem Stromausfall würde er per Fernbedienung einen Generator starten. Gerade weil er Technik liebte, kannte er ihre Grenzen.
Aus der Zeit, in der er noch arbeitete, stammte sein Interesse nicht. Er war sein Leben lang im Finanzamt beschäftigt und dort war die letzte bahnbrechende Innovation die Einführung der elektronischen Steuererklärung gewesen. Das war Anfang 2011 und dreizehn Jahre vor seinem Ruhestand. Inzwischen wehte ein neuer Wind in den Behörden. Deutschland sei digital unterentwickelt und es müsse ein beispielloser Push in Richtung totale Digitalisierung erfolgen – so stand es in der Zeitung. Der Digitale Gesundheitspass, digitale Währung oder der digitale Pass waren Projekte mit hoher Priorität. Haag würde das nur noch als Bürger erleben.
An den Self-Scanner-Kassen im Supermarkt kannte er sich inzwischen besser aus als manche Mitarbeiter. Obst und Gemüse wiegen? Brot aus der Brottheke eingeben? Bar bezahlen? Alles kein Problem für ihn. In seinem kleinen Supermarkt um die Ecke hatte man die ehemalige Kassiererin dafür eingesetzt, den Kunden an den Selbstbedienungskassen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Ihre Kasse blieb geschlossen. Bei seinem letztem Einkauf am Montagabend war Haag ein alter Mann aufgefallen, sicher bereits um die neunzig. Seine Kleidung war ihm zu groß, seine Schuhe abgetragen, das Hemd zerknittert. Ratlos stand er mit zwei Tomaten, abgepacktem Brot und einer Tüte von der Fleischtheke in seinem Einkaufskorb vor den Kassen. Die ehemalige Kassiererin ermunterte ihn: „Das Einscannen ist ganz einfach. Versuchen Sie es. Das schaffen Sie!“ Schon war sie bei anderen Kunden. Der Mann stand ratlos mitten im Raum zwischen den sechs Terminals. Haag machte sich nützlich. Er erklärte, wo man auf dem Bildschirm drücken muss, wie es weitergeht und wie man den Kauf abschließt. „Ich kann das nicht lesen“, sagte der Mann. Ich höre auch nicht gut …“, fügte er noch hinzu. Er wollte mit Bargeld zahlen und kramte zittrig in seinem Geldbeutel. Dann gab er auf: „Ich habe es nicht passend“, sagte er und ließ den Geldbeutel sinken. „Der Automat wechselt Ihnen jeden Schein“, sagte Haag. Und der alte Herr händigte ihm seinen Geldbeutel aus. Es war ziemlich viel Geld darin. Vielleicht seine gesamte Rente? Dann packte Haag ihm noch seine Einkäufe in den Beutel und der Alte hinkte mit gebeugtem Rücken in Richtung Ausgang. „Halt! Sie brauchen den Kassenbon, damit sich die Schranke öffnet!“ Die Kassiererin öffnete die Schranke mit einer Fernbedienung und fauchte Haag an: „Er lernt es nie, wenn er jedesmal einen Dummen findet! Ich hab es ihm schon dreimal erklärt.“ Was sollte man darauf antworten? Neue Technik ohne menschliche Zuwendung ist grausam.
Haag erinnerte sich an Situationen, in denen er selbst Hilfe brauchte: Einmal stand er am Flughafen vor dem Self-Bag-Drop und scheiterte beim Anbringen der Banderole am Koffer. Bei den Angestellten sah das immer so leicht aus! Ein andermal hatte sein Handy irgendeine Fehlfunktion und er konnte im Zug seine Fahrkarte nicht zeigen. Das war zu einer Zeit, als er sie längst nicht mehr ausdruckte um sich doppelt abzusichern. Aber insgesamt machten die Segnungen der Technik das Leben so viel leichter: Navigation, Digitales Bezahlen überall auf der Welt ohne Geldumtausch, die Übersetzung von Speisekarten, einfach, indem man das Handy darüber hielt. Das Einzige, was ihm nicht geheuer war: Die Sorge, dass sich bei einem Stromausfall Türen nicht mehr öffnen ließen. Dann wäre er möglicherweise stundenlang im Dunkeln mit hundert anderen Leuten in einem Supermarkt eingesperrt. Ein Albtraum für ihn.
Mit seiner Frau Sara hatte er oft Streit wegen seines Technikfaibles. In ihrem Haus gab es nichts mehr, das nicht per App bedient werden konnte. Sogar der Herd hatte WLAN-Anschluss. Ganz am Anfang hatte sich Sara wegen der Strahlenbelastung gegen einen Router in der Wohnung gewehrt. Sie hatte darauf bestanden, dass er wenigstens nachts ausgesteckt wird. Diesen Kampf hatte sie längst aufgegeben. Er hatte sich auf andere Bereiche verlagert: Musste man das Hotelzimmer wirklich via App öffnen?
„Irgendwo wird dann auch registriert, wie oft und wie lange wir in dem Zimmer sind. Und pass nur auf: Eines Tages meldet sich deine Krankenkasse bei dir und sagt dir, dass du drei Tage zu wenig geschlafen hast“, schimpfte sie.
Sie stritten sich über die ökologische Nachhaltigkeit von Elektroautos. Seit Haag eines angeschafft hatte, fuhr Sara nicht mehr Auto. Es überforderte sie, die vielen Angaben auf dem Display zu lesen und gleichzeitig konzentriert zu fahren. Sie stritten sich auch über Block-Chain-Geld und den Stromverbrauch. Haag war überall mit dabei.
Noch schlimmer war für Sara, dass Haag inzwischen das Mobiltelefon auch auf dem Esstisch parat liegen hatte. Sie fand es unerträglich, mit ihrem Mann Regeln für das Benutzen des Handys bei Tisch aushandeln zu müssen.
„Merkst du nicht, was die Technik mit uns als Menschen macht?“, fragte sie erbost. „Wenn wir uns nicht mehr ansehen und uns nicht hören, weil wir Stöpsel im Ohr haben.“ Sie kam nicht bei ihm an.
„Gestern saß an der Bushaltestelle ein Mann mit Kopfhörern neben mir. Beim Aufstehen verlor er einen Handschuh. Ich habe ihm hinterhergerufen. Er kriegte nichts mit. Jemand anderes hat ihn am Arm gezupft. Er hat nichts gemerkt. Dann ist der Mann in der Menge verschwunden.“
Haag fand Sophies Übertragung eines so banalen Beispiels auf die ganze Menschheit übertrieben. Ihm erschien allein die Frage nach dem Wohin führt das alles überflüssig.
„Das wird alles kommen! Einfach, weil es für alle so einfach ist!“, meinte er und ging zum Sofa.
Sara schwieg. Ihr fiel der Mann mit dem Handschuh wieder ein: Der Mann, der nichts hörte – der nichts sah – der nichts sagte. Wie die drei Affen gehen wir miteinander um, hatte sie gedacht. Und dann kam die Frage, die sie nicht losließ: Zu welcher Art Mensch werden wir da gerade? Unsere Kinder, unsere Enkel? Vielleicht, so dachte sie, verlieren wir gerade etwas sehr Wertvolles. Nicht auf einen Schlag, ganz schleichend. Und keiner merkt es.
Und doch wusste Sara: Technik war nie nur Gefahr. Sie war immer auch Verheißung: Dass die Dinge besser würden, die Arbeit leichter, die Welt gerechter werden könnte. Ihre Mutter hatte davon erzählt, wie man früher davor warnte, mit der Eisenbahn zu fahren; man fürchtete, die roten Blutkörperchen könnten bei dieser Geschwindigkeit platzen. Wie oft hatten sie darüber schon gelacht! Die Maschinen hatten den Menschen Freiheiten gebracht, monotone Arbeiten abgenommen, Zeit verschafft für anderes. Für Besseres? Sie erinnerte sich an die für alle offenen Bibliotheken in Skandinavien. Mit Kinder-Malecken, Gaming-Raum, Zeitschriften und Musik und einem Café. Jugendliche, Alte, Fremde, Familien – alle waren dort und fühlten sich gut. Sara hatte sich unter ihnen sehr wohl gefühlt. Bildung, Ruhe, Gemeinschaft – als Haltung. In Dänemark sagen sie Hygge, in Schweden mysig, in Norwegen koselig. Es meint nicht Stimmung, es meint ein Miteinander, das sich gut anfühlt.
Sie wollte Haag von ihren Gedanken erzählen – doch er war eingeschlafen. Sein Tablet ruhte auf seinem Bauch. Vielleicht, dachte Sara, kommt es nicht darauf an, wie einfach etwas ist – sondern wie gut es uns miteinander sein lässt.