Trotzdem unterwegs

Blick auf blaues Meer, am Ufer zwei gelbe Poller, am Horizont eine Insel

Ein Auszug aus einem Buch, das gerade entsteht. Es lädt ein, den lauten Puls des Reisens zu hinterfragen und sich auf eine stille andere Art des Reisens zu begeben. |

Unterwegs sein |

Ich fliege nicht gerne. Ich denke an die empfohlenen zwei bis zweieinhalb Stunden Pufferzeit vor dem Abflug. Trotz des inzwischen obligatorischen Online-Eincheckens einen Tag vorher gibt es absurd lange Wartezeiten beim Abgeben und Abholen der Koffer. Nicht zu vergessen die mühsamen Sicherheitskontrollen, bei denen einem Freund sein Flugticket, sein Reisepass und sein Handy aus der grauen, flachen Handgepäckschale geklaut worden sind und er nichts dagegen tun konnte, weil er noch beim Körperscanner anstand. Pech, wenn man im Niemandsland hinter der Sicherheitskontrolle ohne Flugticket, ohne Reisepass und ohne Handy dasteht und der Flieger ohne den Passagier aber mit dem Koffer abhebt.

Trotzdem war Fliegen oft unumgänglich. Unser Zielflughafen war „Preveza“ – ich hatte den Namen nie zuvor gehört. Er liegt am Ambrakischen Golf und wird von vielen deutschen Flughäfen angeflogen. Wir hatten nur die Option, früh um fünf Uhr von Frankfurt aus zu starten – mit Anfahrt und Pufferzeit hätten wir uns eine Nacht um die Ohren schlagen müssen. Es war zwar der schnellste Weg, nur sind wir keine Menschen für Frühflüge. Wenn wir übernächtigt sind, begleitet uns das durch die nächsten drei Tage. Findig, wie mein Mann ist, fand er eine Alternative heraus: Ein kurzer Nachmittagsflug nach Korfu. Von dort konnten wir am nächsten Morgen mit einer kleinen Fähre acht Stunden übers Meer bis zu unserer kleinen Ferieninsel reisen. Den Abend davor würden wir im Hafen von Korfu verbringen. Das klang sehr viel verlockender.

Auch bei einem kurzen Flug kostet mich das Drumherum Nerven. Meinem Mann macht das kaum etwas aus, doch ich frage mich manchmal, warum ich mir das immer wieder antue. Vielleicht spiegelt es meine Ambivalenz: äußerlich mache ich dasselbe wie alle anderen und innerlich betrachte ich alles mit einer gewissen Widerspenstigkeit.

Im Bus zum Rollfeld hatte ich allerdings eine ganz besondere Begegnung. Der Bus war bis auf den letzten Stehplatz dicht gefüllt. Ich hatte vor meinem Gesicht etwas Freiraum, denn ich stand neben einem unbenutzten Kofferablegeplatz über den Rädern des Busses. Die Luft war stickig, manche Leute konnten sich nirgends richtig festhalten – hinfallen konnte wegen der Enge niemand. Neben mir stand ein Mann in meinem Alter, auffallend förmlich gekleidet für einen Ferienflieger, mit einem hellbraunen Anzug, Krawatte, cognacbraunen Oxfordschuhen. Er versuchte sich mit Mühe oben an einer Stange festzuhalten, sein Atem war hörbar schwer und unruhig. Ich bot ihm meinen Stehplatz vor dem Kofferpodest an. Dankbar nickte er, versuchte sich auf dem seltsamen, halbschrägen Sitz hinzusetzen, plumpste nach unten, saß dann. Wieder schnaufte er tief, blickte auf den Boden. Kurz bevor wir ausstiegen, schaute er auf und sagte zu mir: „Danke. Ich habe Krebs. Leider final. Mir fehlt einfach die Kraft.“ Er sprach erschreckend sachlich. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und nickte nur. Am liebsten hätte ich ihn kurz berührt. Es war, als wäre für einen Moment die Tür zu einem ganz anderen Raum geöffnet worden – einen, in dem das zählt, was im Getümmel übertönt wurde. Im Flugzeug sah ich ihn nicht mehr. Er war vorne in die Maschine eingestiegen, wir hinten. Vielleicht flog er nach Hause. Vielleicht noch einmal ans Meer. Ich wünschte ihm innerlich alles Gute. Wegen der eng nebeneinander sitzenden Leute im Flugzeug erzählte ich meinem Mann erst einmal nichts davon und versuchte, mit geschlossenen Augen etwas abzuschalten.

Mit Verspätung erreichten wir Korfu. Der erste Schritt aus dem Flugzeug war wie gegen eine Hitzewand zu prallen. So als ob jemand eine Backofentür geöffnet hätte. Eine digitale Anzeige am Flughafengebäude zeigte 44 Grad an. Vor der Ankunftshalle versuchten wir ein Taxi zu ergattern. Es war laut, voll, heiß – und trotzdem erstaunlich gut organisiert. Ein Grieche mit entschlossener Miene dirigierte Fahrgäste zu den wartenden Taxis und verteilte sie nach Zielort, Hotel und Personenzahl. Die Klimaanlagen der schwarzen Autos brummten bei geöffneten Autofenstern. Ich hätte mich allein vermutlich kaum bemerkbar machen können. Es war eine typisch männliche Welt.

Nach dem Einchecken im Hotel direkt am Hafen schnauften wir das erste Mal durch und ein erstes Urlaubsgefühl stellte sich ein. Wir machten einen kurzen Rundgang und kehrten in einem einfachen Lokal ein. Beim Abendessen saßen mein Mann und ich schweigend und genießend nebeneinander. Von außen mag das aussehen, als hätten wir uns nicht viel zu sagen. Aber so ist das nicht. Wir müssen nicht fragen: „Hast du das Schiff da hinten gesehen?“, wenn wir sehen, dass der Blick des anderen genau in diese Richtung geht. Es gibt schöne Beobachtungen, die wir mit Worten nicht ausführen müssen. Wir sitzen dann nebeneinander, fassen uns manchmal an der Hand und zwischen uns stellt sich ein stiller Austausch ein.

Nach dem Abendessen suchten wir noch den Abfahrtspunkt unserer Fähre. Er war nicht ganz einfach zu finden, da es keine klare Adresse gab. Die Kaianlage war mit riesigen Fährschiffen Richtung Piräus voll belegt, Lastwagen warteten davor, das war kein Platz für unser kleines Fährboot. Wir fragten Passanten, Taxifahrer, selbst im Hotel hatte man uns nicht weiterhelfen können. Da entdeckte mein Mann auf dem Meer ein schnelles Boot, das Ähnlichkeit mit der charakteristischen Silhouette unserer Personenfähre hatte. Wir beobachteten, wo es anlegte und lagen damit zum Glück richtig. Es lag wirklich ganz am Rand der Anlage, ein bisschen wie das Nebengleis eines Bahnhofs, das man nur findet, wenn man es schon kennt.

Am nächsten Morgen fragte ich mich, wie die anderen Fahrgäste den richtigen Kai gefunden hatten. Es gab auch morgens um halb sieben Uhr noch kein offenes Café oder eine Bäckerei; so bestiegen die meisten hungrig das Boot, was selbst einige Griechen leise fluchen ließ.

Allerdings erwartete uns – sozusagen als Entschädigung – ein unverhofftes Geschenk: Ein Sonnenaufgang über dem Meer. Es sah erst gar nicht danach aus, denn die Luft war wie in einer Waschküche, feucht und diesig, das Wasser hatte eine hellgraue Farbe, die Sicht aufs Meer hinaus vernebelt. Gegenüber dem Hafen von Korfu liegt die kleine Insel Vido und dahinter das Festland und die Berge Albaniens, beides war wie hinter einer Milchglasscheibe nur erahnbar. Von dort kam nun immer mehr Licht. Es zauberte auf das Wasser ein zartes Türkis und von Minute zu Minute gesellte sich ein Hauch mehr Apricot hinzu. Der Sonnenball selbst war noch nicht zu sehen. Er kam erst hinter den Bergen hervor, als wir schon an Bord waren. Nun färbte der Vorhof der Sonne die Welt in ein zartes Gold. Das Wasser war völlig glatt und fing an, immer mehr zu glitzern. „So sieht Frieden aus“, ging es mir durch den Kopf.

Es war nur der erste Teil unseres Ankunftsgeschenks. Noch am selben Abend erwartete uns ein Sonnenuntergang auf unserer kleinen griechischen Insel. Ein Sonnenaufgang und ein Sonnenuntergang am Tag der Sommersonnenwende. Welch verheißungsvoller Auftakt!

An Bord unseres Fährbootes war alles routiniert geregelt. Die Passagiere, die am spätesten ausstiegen, wurden als erstes auf das Schiff gebeten. Das hing mit ihren Koffern zusammen, die ganz hinten verstaut wurden, damit sie vorher nicht im Weg waren. Es war nicht viel Platz für Koffer vorhanden, da war das First-in-Last-out-Prinzip eine praktische Sache. Weil wir erst ziemlich spät ausstiegen, kamen wir in den Genuss, uns einen schattigen Platz auf dem oberen Sonnendeck aussuchen zu können. Während das Fährboot aus dem Hafen fuhr, beobachtete ich das Aufsteigen der Sonne weiter, schloss die Augen und genoss den leichten Fahrtwind in meinen Haaren. Es war still auf dem Schiff. Fast alle Leute schauten sich schweigend den Sonnenaufgang an.

Erst danach wurde es geschäftiger. Manche suchten noch einen Platz, andere eine Toilette oder ein Frühstück. Um uns herum mischten sich Sprachen: Französisch, Spanisch, Englisch. Die fremden Sprachen machten es mir leichter, auf Durchzug zu schalten. Bis mich eine junge Frauenstimme erreichte: „Ich lebe hier von meinem Arbeitslosengeld. Geht mir viel besser so. Meine Firma war so gierig!“ Ich kannte die Stimme der jungen Frau, die uns morgens nach dem Weg gefragt hatte. Sie war mir sympathisch erschienen, eine dieser offenen, freundlichen Rucksackreisenden. Nun hörte ich Sätze, die mich irritierten. Über ein System lästern und gleichzeitig von ihm leben – das kam mir bekannt vor. In meinem früheren Beruf als Beraterin hatte ich Menschen wie sie insgeheim „Halbumwandler“ genannt. Heuschrecken sind beispielsweise Halbumwandler. Sie machen nicht wie Schmetterlinge eine umfassende Verwandlung durch, sondern wachsen ab einem bestimmten Stadium nur noch.

Um ihr nicht weiter zuhören zu müssen, ging ich nach vorne an den Bug. Wir waren nun auf dem offenen Meer. Die Gischt am Heck war mindestens zehn Meter breit. Ich stellte mich an die Reling neben der Brücke und sah dem Kapitän beim Navigieren zu. Das Boot war nicht groß, hatte Raum für achtundachtzig Plätze laut einem aushängenden Plan. Ungefähr dreißig Meter war es lang und damit so groß wie eine mittelgroße private Yacht, wie ich später erfuhr.

Nach dem Anfahren einer ersten Zwischenstation fuhren wir unter einer geteilten Hubbrücke durch. Der Brückenwärter hatte ein Signal gegeben, kein Auto durfte mehr auf die Brücke fahren, da sie sich nach oben öffnete. Ein eiliger Autofahrer ignorierte das Warnsignal. Der Wärter war völlig aus dem Häuschen und faltete den verdutzen Autofahrer lautstark zusammen. „Typisch griechisch“, kommentierte mein Mann, als ich ihm die Episode später erzählte. „Bei uns hätte er eine Anzeige bekommen. Hier klären sie das untereinander.“ Das war meinem Mann sympathischer.

Wir waren flott unterwegs. Der Fahrtwind war angenehm. Ich fragte mich, ob meine Lebensreise im Grund ähnlich rasant verlief und ich es nur auf dem gemütlichen Oberdeck meines Ruhestands gar nicht wahrnahm? Die Reise meines Lebens hatte ich mir bisher immer wie die Fahrt auf einem breiten Fluss vorgestellt – zwischen zwei Ufern, mit klaren Richtungen, ab und zu ein neuer Zufluss oder eine Mündung in einen größeren Fluss. Aber vielleicht war ich längst auf offenem Meer unterwegs.

Ich war lange nicht mehr in Griechenland gewesen. Und nun nahm ich bereits am zweiten Tag, und obwohl ich noch gar nicht an unserem Bestimmungsort angekommen war, meinen Lebensstrom intensiver wahr als vorher.