Vollbremsung bei 280 km/h (2)

Es war Montagfrüh, ein warmer Septembermorgen, an dem das Licht besonders schön war. Herr Bauer dachte an Indian Summer und genoss die intensive Blattverfärbung in jenem Jahr. Beim Aussteigen aus dem Auto nahm er die ungewöhnlich warme Luft wahr. Oft bekam er vom Wetter ganz wenig mit, weil er bei sich in der Tiefgarage in sein Auto stieg und in der Firma in der Tiefgarage wieder aus. Heute war sein Parkplatz wegen einer Wartung gesperrt. Er parkte auf dem großen Firmenparkplatz.

Auf ihn wartete ein voller Tag. Um 9 Uhr ein wichtiges Kundenmeeting, für das er noch etwas vorbereiten musste. Vorher ploppte ein neuer Termin herein. Die Personalabteilung hatte ihn am Freitag eingestellt. 8 bis 9 Uhr Meeting beim Personalchef. Es ging wohl um den Mitarbeiter von ihm. Dieser Termin lag äußerst unpassend, aber so war es nun mal. Kurze Zeit später betrat er das Zimmer des Personalleiters und wunderte sich, dass am Besprechungstisch sein Chef-Chef saß. Herr Bauer überlegte noch, wenn sie mir vorher gesagt hätten, dass dieser Termin so offiziell ist, dann hätte er seine Notizen mitgenommen, die er sich zu dem Vorgang gemacht hatte. Oder er hätte sie sich zumindest vorher noch einmal durchgelesen, um die Daten parat zu haben. Und dann? Vorbei. Sein Leben hörte einfach auf. Vorher wähnte er sich als unverzichtbar, jetzt öffnete sich ein Loch unter ihm und er fiel ins Bodenlose.

Sie kündigten ihm gerade. Ihm. Nicht seinem Mitarbeiter. Er konnte es nicht fassen.

„Wir bedauern diese Entwicklung und würdigen sehr, was Sie für unser Unternehmen bisher geleistet haben. Doch es gibt leider keine Alternative. Wir werden die Niederlassung schließen“, hörte er wie durch eine Nebelwand den Personalchef sprechen und sein Chef-Chef nickte.

„Aber wir werden Sie in dieser Situation nicht allein lassen. Wir stellen Ihnen eine Beraterin zur Seite, die sich mit der Stellensuche für Führungskräfte wie Ihnen auskennt. Sie wird Sie unterstützen. Sie wartet nebenan im Besprechungsraum und wird Ihnen erklären, wie es weitergehen könnte.“

Herr Bauer begriff immer noch nicht.

„Ich habe jetzt einen wichtigen Kundentermin. Ich kann nicht mit dieser Frau sprechen“, sagte er.

„Das ist alles geregelt“, sagte sein Chef-Chef. „Sie brauchen nicht mehr an Ihren Schreibtisch zurückzugehen, ich kümmere mich darum.“

Die beiden Männer standen auf. Auch Herr Bauer erhob sich und schaute sie fragend an.

„Alles Weitere besprechen wir am Mittwoch telefonisch. Ich werde Sie anrufen“, sagte der Personalchef. „Ihre persönliche Handynummer haben wir ja.“

„Glauben Sie mir, ich bedauere diese Entwicklung sehr. Aber es ist leider nicht zu ändern“, wiederholte der Chef-Chef seine Worte. „Darf ich Sie nun zu der Beraterin begleiten und Sie kurz vorstellen?“, fügte er noch hinzu.

Herr Bauer hätte alles getan, um aus dieser Situation so schnell wie möglich herauszukommen. Deshalb antwortete er nur:

„Danke, ich kenne mich aus.“

Als er die Türe zum Besprechungsraum öffnete, kam ihm die gewohnt staubige Luft entgegen. Die Fenster ließen sich nicht öffnen und auch die Stühle standen noch auf den Tischen, so wie die Putzfrau den Raum am Freitag verlassen hatte. Heute war wohl noch keine Besprechung in dem Raum gewesen. Sofort fühlte er sich wie in seiner Schulzeit, klein und wie einer von vielen. Auf dem Tisch war ein Tablett mit Kaffee und Getränken bereitgestellt. Jetzt erst nahm er eine Dame wahr, die auf ihn zukam.

„Guten Morgen. Mein Name ist Carola Meinig. Ich bin Beraterin für New-Placement für Führungskräfte. Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie gerade eine sehr unangenehme Nachricht erfahren mussten“, fuhr sie fort.

„Ich bedauere. Ich habe gerade keine Zeit. Ich muss zu einem sehr wichtigen Kundentermin. Und muss vorher noch etwas vorbereiten“, erwiderte Herr Bauer.

„Ihr Chef wird das regeln. Er wird Sie entschuldigen. Sie brauchen nicht mehr zurück an Ihren Arbeitsplatz zu gehen“, sagte die Beraterin.

Herr Bauer schüttelte ungläubig den Kopf.

„Am besten gehen Sie für heute nach Hause. Ich werde mich morgen Früh bei Ihnen melden. Sie können mich aber auch heute Nachmittag anrufen, wenn Sie das wünschen. Leider habe ich Ihre persönliche Telefonnummer nicht“, sagte sie noch und reichte ihm ihre Visitenkarte.

Während sie sich Herrn Bauers Telefonnummer notierte fragte sie:

„Werden Sie fahren können? Oder soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“

Nein, er würde fahren können. Er wollte nur heraus hier und seine Gedanken sortieren.

(Dieser Text ist ein Vorab-Auszug aus der Erzählung „Herr Bauer kann nichts tun“, der im Herbst 2023 erscheinen wird.)

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