Dieser Teil spielt zehn Monate später als Teil (2)
Es war nicht so, dass sich Herr Bauer die Frage nach einer Richtungsänderung noch nie gestellt hatte. Das hatte er früher getan und er war auch jetzt bereit dazu, alles in Frage zu stellen. Vielleicht nicht so rigoros, mit Aussteigen oder Auswanderung. Es konnte ihm niemand vorwerfen, er hätte in seinem Leben nie das Ruder herumgerissen. Nach dem Studium hatte er sofort reagiert. Die Beraterin fragte ihn, ob er sich zu sehr angepasst und eigene Träume aufgegeben habe. Nein, so war das nicht gewesen. Als ihm der Außendienst und die pausenlose Fahrerei zu viel geworden war, ist er in den Vertriebsleiterjob. Das war eine Kurskorrektur. Die Beraterin fragte ihn, ob dieser Wechsel dem nähergekommen ist, wie er eigentlich leben will. Er hatte sich diese Frage nie gestellt.
„Wie will ich leben? Ist das Leben ein Wunschkonzert?“, fragte er sich nun. Als er krank geworden war, achtete er sehr darauf, dass er möglichst schnell wieder arbeiten kann. Er nahm sich vor, sich öfter Ruhepausen zu gönnen. Das hatte aber nicht geklappt. Nach seiner Scheidung begriff er zwar, dass er zu wenig Zeit für die Beziehung gehabt hatte, nur konnte er nicht sehen, wie er das in seiner Position hätte ändern können. Nein, die Frage, ob er so lebt, wie er leben will, hatte er sich nie ernsthaft gestellt. Er war einfach so in jede berufliche Station hineingerutscht. Jetzt nach der Kündigung kamen langsam neue Ideen hoch.
Wie wollte er leben? Nicht allein. Nicht gehetzt. Er hatte Lust, etwas mit aufzubauen, mit anderen zusammen. Er hatte Lust, neue Menschen kennenzulernen. Er hatte Lust, ganz woanders zu leben und nur die halbe Woche zu arbeiten, oder zeitweise mal ein paar Monate lang zu arbeiten und dann wieder frei zu haben. Er hatte Lust, nichts zu planen und zu lernen, sich dem Leben anzuvertrauen. Wenn er nur eines davon verwirklichen könnte, wäre das, wie auf einem anderen Planeten zu leben. Dann wäre die Kündigung wirklich eine Zäsur, nach der ein Spurwechsel in seinem Leben geschehen konnte. Oder sogar mehr noch: Nach der er von der Autobahn abgefahren ist und in eine Gegend kam, in der sein Navi aussetzt und nicht mehr funktioniert.
Wäre er dann ein Aussteiger? Ein Aussteiger aus einem System, das auf Leistung, Anstrengung und Geld verdienen ausgerichtet ist? Gab es irgendwo auf der Welt ein besseres System als das, was er kannte?
Eine neue Ausrichtung würde alles ändern. Auch wenn er im Augenblick nur auf Ideen kam, die viel Geld kosten oder von denen er nicht leben könnte. Aber gab es nicht neuerdings die digitalen Nomaden, die von überall auf der Welt irgendeinem IT-Job nachgingen, damit ihren Lebensunterhalt verdienten und es sich ansonsten gutgehen ließen? Sein Verstand lieferte sofort Gegenargumente. „Ja aber das können nicht alle!“. Wie es nicht geht, wusste sein Verstand schnell. Nur keine Antwort auf die Frage, wie er von der einen Spur in die andere gelangen könnte.
Sollte er nochmal eine Ausbildung machen? Die Beraterin meinte: Nein. Sie empfahl in seinem Fall keine übereilten Nägel mit Köpfen zu machen. Geduld war nicht Herrn Bauers Stärke. Er konnte sich nicht vorstellen, ob ein anderes Leben besser wäre, er wollte nur so schnell wie möglich aus dieser Ungewissheit herauskommen. Die konnte er kaum mehr aushalten.
Dieser Text ist ein Vorab-Auszug aus der Erzählung „Herr Bauer kann nichts tun“, die im Herbst 2023 erscheinen wird.