Innerhalb einer Minute kann sich das Leben total wenden. In Herrn Bauers Fall kam es durch eine unerwartete Kündigung dazu. Sein persönliches Fazit war: „Jetzt ändere ich alles in meinem Leben!“ Dann kam ein neuer Alltag und neue dringende Dinge, die alle wichtiger waren als er und sein Leben. Sein Entschluss weichte unmerklich auf. Und er geriet in dieselben alten Fahrwasser wie früher. Als er es bemerkte, schwor er sich: „Diesmal werde ich mein Leben neu gestalten, nicht aus der Not heraus, nein freiwillig und mit Überzeugung. Ich will es ohne Druck erreichen. Ich will heraus aus dem ewigen Hamsterrad!“
Sein Leben lang hatte er unter Druck gestanden. Der Druck kam von außen oder er machte ihn sich selbst. Äußerer Druck war wechselhaft und entzog sich seiner Kontrolle. Einmal fühlte er sich ihm gewachsen, einmal ohnmächtig ausgeliefert. Den wesentlichen Unterschied zwischen äußerem und innerem Druck sah er darin, dass er gegen ersteren ankämpfte und letzteren richtig fand. „Starke intrinsische Motivation“ war seine angelesene Beschreibung für ungesunde Anforderungen an seinen Körper, seine Werte und gegen all die Menschen, die er liebte.
Erst als er ein neues Gefühl kennengelernt hatte, erkannte er den Irrsinn. Das neue Gefühl fühlte sich ganz natürlich an, er musste nichts dafür tun, weil es sich von selbst einstellte, wenn er einmal in Muße einer Sache nachging. Damals ahnte er noch nicht, was mit diesem Gefühl alles möglich sein wird.
So wie wir die Welt beschreiben, nehmen wir sie wahr. Wie beschrieb Herr Bauer die Arbeitswelt? „Wer sich anstrengt, kann es zu etwas bringen.“ Er könnte auch von Menschen wie ihm erzählen, die sich verausgaben und trotzdem alles verlieren, dann würde er das auch bei anderen wahrnehmen, denen es genauso geht wie ihm. Doch die alte Mär war immer noch attraktiver als die Wahrheit. Menschen sind erstaunlich hartnäckig im Verkennen dessen, was sie nicht sehen wollen.
Wie beschrieb Herr Bauer Fortschritt? Als technische Innovation, die die Wirtschaft vorantreibt. Er könnte auch vom Fortschreiten der Menschlichkeit erzählen, vom Auffangen der Armen und dem Glück des Gebens. Und, ganz wichtig: von der gänzlich unbeachteten Kraft der Stille und der ungefüllten Zeit. Er könnte von dem Glück erzählen, seit er sich nicht mehr wie ein Rad im Getriebe fühlt und mehr wie ein gesunder hoher Baum im schützenden Wald. Doch darüber konnte er nicht sprechen.
Wie beschreibt er seine Welt? Er spricht über den anfänglichen Zweifel, ob es sein darf, wo es ihn hingezogen hat und worüber er sich heute sicher ist, dass es genau so richtig für ihn ist. Ein Leben, in dem er zur Ruhe gekommen ist, das sich in Richtung Sinn und Wesentlichkeit entwickelt.
Es verlockt mich, seine Wandlung zu beschreiben und die Erinnerung an jene Minute, in der sich sein Leben wendete, scheint mir als Einstieg ideal geeignet zu sein. Über zwei Jahre ist es nun her.
(Dies ist der Einstieg zu dem Erzählung „Herr Bauer kann nichts tun“, die seit über einem Jahr abgeschlossen in meiner Schreibtischschublade liegt und aus der ich einzelne Episoden hier nun veröffentliche.)
Margit Thürauf (c) 21.10.2021