Carola ist eine Frau, die es sich ihr Leben lang nicht leicht gemacht hat. Als sie in Rente geht, will sie das ändern. Sie beginnt zu schreiben. Und merkt nach und nach, wie sie selbst bei der Tätigkeit, die ihr am allermeisten Freude bereitet, wieder in alte Fahrwasser rutscht. Es gelingt ihr, sich daraus zu befreien. Doch einfach war es nicht.
Sie hatte es sich nicht leicht gemacht, in ihrem bisherigen Leben. Im Studium von den Eltern nicht unterstützt, im Beruf immer etwas besser sein wollen, als andere, mehr gelernt, mehr überlegt, mehr nachgedacht, mehr reflektiert. Eine Kollegin sagte: „Sie ist mir nicht sympathisch. Sie macht alles so kompliziert.“ Carola wollte viel erreichen und hat viel erreicht in ihrem Leben. „Die Anstrengung hat sich ausgezahlt“, findet sie.
Ihre Mutter hatte es auch nicht leicht in ihrem Leben. Sie führte das Leben einer Bäuerin: Vieh versorgen, mit aufs Feld gehen und neun Kinder kriegen. Und dafür sorgen, dass sie satt werden. Leben als Überlebenskampf. Seit Generationen steckte die Mühe in jeder einzelnen Zelle und wurde an die Nachfolgenden weitergegeben.
Nach dem Krieg spuckte die ganze Gesellschaft in die Hände. Schaffe, schaffe, Häusle baue. Alle wollten es zu etwas bringen. Leistungsdenken nistete sich in den Köpfen ein. Das Bruttosozialprodukt gesteigert. Status erreicht. Ansehen bewirkt. Arbeiten bis zur Erschöpfung und weit darüber hinaus als Normalzustand. Später ständige Erreichbarkeit und keine Zeit fürs Nichtstun.
Das sollte sich ändern. Carola wollte endlich, endlich ein leichteres Leben haben. Das war es, was sie sich für ihre Rentenzeit vorgenommen hatte.
Damit fielen eine ganze Reihe von Aktivitäten von vorneherein heraus. Sie wollte nichts mehr tun, wo sie regelmäßig zu einer bestimmten Uhrzeit sein musste. Keine Pflichten und keine Verpflichtungen mehr eingehen. Kein Angebundensein mehr und Raum für Spontaneität. Viel Raum dagegen für Dinge, die sie interessierten, egal ob das etwas bringt oder irgendjemand interessiert oder nicht.
Das Schreiben interessierte sie. Sie schrieb nur für sich. Anfangs schrieb sie sich ihre Sorgen von der Seele. Später bedachte sie ihre Vergangenheit und arbeitete viel Liegengebliebenes auf. Dann lichtete sich langsam die Schwere. Sie begann über Träume zu schreiben und darüber, wie es sein könnte, wenn sie so wäre wie sie eigentlich war. Gedichte flossen von ihrem Herz auf das Blatt. Schreibend hatte sie etwas zu sagen und langsam reifte der Wunsch in ihr, das in die Welt zu bringen.
Sie besuchte Kurse und lernte viel über die Kunst des Schreibens. Einen ganzen Handwerkskoffer mit Figurenentwicklung, Spannungsaufbau, Dialoggestaltung, und vieles andere mehr hatte sie nun gesammelt. Ihr Schreiben veränderte sich. Es floss über den Kopf auf den Bildschirm. Erschöpft klappte sie abends oft den Computer zu. Dann musste noch Korrektur gelesen werden. Sie arbeitete die Änderungsvorschläge der Lektorin ein und ihr ganzes Manuskript um, damit es die Zielgruppe erreicht und in das Verlagsprogramm passt. Der Abgabetermin war unbedingt einzuhalten. Es war eine aufregende Zeit, aber auch anstrengend. Ihr Leben musste wieder zurückstehen.
Carola träumte von Lesungen vor Publikum. Am liebsten in einem kleineren Kreis, in kleinen Buchhandlungen irgendwo im Land. Sie würde morgens mit ihrem Mann gemeinsam anreisen, sich nachmittags das Städtchen ansehen und abends lesen. Danach mit Zuhörerinnen ins Gespräch kommen und mit der Buchhändlerin ein Glas Wein trinken. Am nächsten Tag glücklich mit vollen neuen Eindrücken und wertvollen Begegnungen nach Hause fahren. Nur: die kleinen Läden mit den Inhabern, bei denen sich die Begeisterung für Bücher und für das Lesen auf ihre Kunden übertrug und die immer einen passenden Lesetipp parat hatten, die Geschichte des Buches in wenigen Worten anreißen, viel besser als jeder Klappentext, gab es die noch? Die Buchhandlungen von heute waren vollgestopft mit Tand und Nippes, die Buchdeckel sahen alle gleich aus, bunt, mit reißerischen Titeln, die Carola alle nicht ansprachen. Das Buch als Produkt. Es ging schon lange nicht mehr um Geschichten, die ihre Leser in eine unbekannte Welt entführen.
Auch die ganze Verlagswelt hatte sich vom Paulus zum Saulus gewandelt. Sie war zu einer Industrie geworden. Es ging um massentaugliche Ware. Nische wird nicht gekauft. Verkaufszahlen hatten mehr Bedeutung als Authentizität.
Musste Carola da durch, wenn sie veröffentlichen wollte? Alles in ihr wehrte sich dagegen. Sie wollte doch keinen Druck mehr. Und nun machte sie sich wieder welchen.
Der Bruch und das neue Nachdenken
Sie begann wieder nur für sich zu schreiben. Sie erstellte Geschenkbüchlein für Freunde, individuelle Geschenke mit Liebe geschrieben. Nur leider von den Freunden kaum gelesen. Sie merkte es an den ausbleibenden Gesprächen darüber. Dabei schrieb sie über Themen, die alle betrafen, über das Älterwerden, die Zukunft und den Sinn des Lebens. Nein, in ihrem eigenen Umfeld wurde nicht gelesen, was sie schrieb und nicht darüber gesprochen. Manche Freundinnen lasen auch kaum mehr Bücher. Gibt es nicht auch noch etwas anderes als Bücher zu schreiben?
Im Vergleich zu früher gab es nun für alles Onlineaustauschforen und tatsächlich fand sie eines, in dem ihre Geschichten gelesen wurden. Sie freute sich, als die Lesezahlen auf 50, 100, 500 anwuchsen. Mehr noch erfreute sie sich an den Geschichten der anderen Geschichtenschreiber, die sie dort lesen konnte. In kurzer Zeit entstand ein reger Austausch, herzlich und zugewandt. Eine Gemeinschaft von Schreibliebhaberinnen mit unterschiedlichen Sichtweisen auf das Leben, fand sich dort und und tauschte sich aus.
Es gab auch Schattenseiten. Leute, die nicht lasen, nur likten, um selbst Likes zu sammeln. Leute, die sich nicht für andere interessierten, sondern Reichweite erreichen, für ihre Seminare werben und ihre sogenannten Expertenbücher an den Mann bringen wollten. Beide Welten existierten nebeneinander, berührten sich zwar, waren sich jedoch nicht im Wege. Bis die Betreiber der Plattform ihr klares Interesse für den Verkauf von Büchern deutlich machten und den Austausch der AutorInnen untereinander unterbanden. Die alte Welt drehte der neuen einfach den Saft ab. Der Saft war der Austausch und die Freude.
Die Freude knüpfte ein neues Band um einige Wenige, die neue Wege der Vernetzung suchten. Es war mühsamer, manchen zu mühsam. Auf eine fertige andere Plattform wären viele umgesprungen, doch die gab es nicht. Das Lesen und Gelesen werden fand nun über verschiedene Kanäle statt und war nicht mehr so leicht zugänglich wie früher. Alles war wieder anstrengend. Die Leichtigkeit war weg.
Die AustauschGruppe wurde kleiner. Der Austausch gleichzeitig intensiver und persönlicher. Was die Gleichgesinnten miteinander verband, war die Liebe zum Schreiben, zur Sprache und zum Ausdruck. Und der Wunsch, die eigenen Werke in der Form, in der sie waren, mit anderen teilen zu können. Aber einfach war das nicht.
Die Gruppe beflügelte sich gegenseitig durch wohlwollende Rückmeldungen und die unterschiedlichen Talente, die die einzelnen einbrachten. Innerhalb kürzester Zeit schuf jede von ihnen eine eigene Webseite, auf der sie ihre Texte veröffentlichte. Auch ein gemeinsames Schaufenster entstand, in dem andere mitlesen konnten. Die ersten positiven Rückmeldungen kamen herein. Leicht war das alles nicht gewesen. Im Flow geschaffen, ja. Danach stellte sich Müdigkeit ein. Wie sollte es weiter gehen?
Sie hatten noch keine Vision. Erste Ansätze waren dagewesen, eine eigene Radiosendung, zwei Moderatorinnen, Gäste, Gespräche, Onlinelesungen. Online ist nicht dasselbe wie persönliche Lesungen, doch das eine schließt das andere ja nicht aus.
Eine Vision macht alles leichter. Und eine gemeinsame Vision beflügelt. Es müssen gar nicht alle an einem Projekt arbeiten. Jede baut an ihrem eigene Trakt der Kathedrale, eine schmückt aus und die andere hält dort regelmäßig Lesungen, oder moderiert Diskussionen. Jede, wie sie sich einbringen möchte. Was daraus wird, überlassen sie dem Universum. Es wird gut werden, da sind sich alle einig.
Nun wird es leichter. Und wenn es wieder schwer wird, machen alle Pause. Unter Druck wollen sie nicht weitergehen. Das wäre auf Dauer auch zu anstrengend. Sie lassen sich von der Freude leiten, jede in ihrem eigenen Rhythmus.
So ging es weiter
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Der Austausch mit Gleichgesinnten hat Carola in Schwung gebracht, doch auch ihrem eigenen Wunsch Kraft abgezogen. Sie musste eine neue Balance finden. Dabei weiß sie: Sie braucht beides. Ihre Seele flüstert ihr Ideen ein, die sie in Worte zu fassen versucht. Carola wird klar, es geht nicht um ihren persönlichen Wunsch. Es geht um etwas Größeres. Ein Sprung ist vorgesehen. Was konnte der Sprung bei ihr sein, in ihrem Schreiben?
Anfangs wusste sie nur, was es nicht war. Es ging ihr nicht darum, für andere zu schreiben. Immer, wenn sie das getan hatte, entfernte sie sich von dem, was sie eigentlich ausdrücken wollte. Sie formulierte allgemein und ging zu wenig in die Tiefe und wenn sie doch tiefschürfende Gedanken aufschrieb, wurde es anstrengend. Es wurde anstrengend zu lesen und anstrengend zu schreiben.
Was konnte der Sprung bei sein, von dem sie so deutlich spürte, dass er anstand? Bei der Geburtstagsfeier einer Freundin kam sie der Frage näher. Die Freundin hatte zu ihrem runden Geburtstag ein Musikerpaar eingeladen. Carola interessiert die Künstlerin, die so vorgestellt worden ist:
„Während der Lockdowns hat sie sich eine andere Realität geschaffen.“
Diese Erfahrung weckt ihr Interesse und nach dem Auftritt kommt sie mit ihr ins Gespräch. Ihr Name ist Alexa. Sie erzählt von den wegbrechenden Auftritten und ihren Existenzängsten zu Beginn der Pandemie. Auch ihr Mann und ihre erwachsene Tochter leben von der Kunst. In ihrem gesamten Freundeskreis grassierte Panik. Sie und ihre Familie hatten keine Angst vor Erkrankung, nur der Wegfall des Einkommens war das Problem. Ihr Mann bekam vorübergehend Kurzarbeitergeld. Das verschaffte ihnen eine Verschnaufpause. Aber die Tochter, die Freunde, die Clubbesitzer? Würde es noch Clubs geben, wenn die Krise vorüber war? Sie hatten die Idee, private Konzerte für Geburtstagsfeiern anzubieten. Dass sie sich offen als Impfgegner positionierten und sogar Lieder dazu sangen, förderte ihr Projekt nicht gerade. Zwei Jahre später, seit sich die allgemeine Meinung drehte, ernten sie die Früchte und sie werden gerade wegen ihrer kritischen Meinung gebucht. Nach ihrer Erzählung verdienen sie an einem Abend mehr als in einem Club.
„Und wir bekommen ein eigenes Zimmer, wo wir uns umziehen können, ein gutes Essen, etwas zu trinken. In Clubs ziehe ich mich manchmal in der Besenkammer um und bekomme eine Flasche Mineralwasser“, erzählte Alexa.
Sie sprach auch über ihre inneren Prozess: Sie wollte kein Opfer sein, egal, wie die Umstände waren.
„Was ich aussende, bekomme ich zurück“, war ihre Überzeugung.
Wenn ich Ohnmachtsgefühle raussende, Panikgefühle, Wut, Empörung, bekomme ich all das zurück. Das wollte sie nicht. In ihrer Familie erinnerten sie sich gegenseitig daran.
Carola machte das Gespräch mit der Künstlerin nachdenklich. Die Großen der Künstlerszene hatten sich in der gesamten Zeit vornehm zurückgehalten. Sie wollten ihr Image nicht beschädigen und irgendwann an alte Erfolge anknüpfen. Die Musikindustrie braucht Masse und bedient damit den Massengeschmack. Ein Riesenkonzert mag für Viele ein großartiges Erlebnis sein. Carola interessierte das nicht, ihr Musikgeschmack hatte sich die letzten Jahre umgestellt. Sie liebte echte Musik im kleinen Rahmen und wäre nie bereit gewesen, für eine Karte bei Helene Fischer dreihundert Euro zu bezahlen, für eine Person. War es in der Buchbranche inzwischen nicht ähnlich? Es gab einige Erfolgsautoren, die auf großen Lesetourneen unterwegs waren oder bei Buchmessen Hallen füllten. Ihre persönlichen und leisen Texte waren für solche Veranstaltungen nicht geeignet, das war ihr klar. Wünschte sie sich das überhaupt? Ihre Seele antwortete eindeutig: Nein.
Alexa und ihr Mann hatten sich eine neue Realität geschaffen. Sie traten im privaten Rahmen auf, ganz dicht an ihrem Publikum, das sich für sie und ihr Leben interessiert. Manchmal waren sie auch in einem Küchenstudio eingeladen, manchmal bei einem Bioladen. Alexas Mann bekannte:
„Der Aufwand ist größer geworden, die ganze Organisation, die Abläufe. Alles muss individuell geregelt werden. Die Großen müssen sich um nichts kümmern. Aber sie dürfen auch nicht sagen, was sie denken. Alles muss im Rahmen bleiben.“
„Ist die ganze Organisation nicht schrecklich anstrengend?“, fragte Carola.
„Ehrlichgesagt war das frühere Leben viel anstrengender. Keine Nacht im eigenen Bett. Ich möchte das nicht mehr.“
Die beiden Musiker veröffentlichten ihre Erfahrungen auch in einem Buch, das sie bald herausbringen wollten. Denn durch das Wegbrechen der alten Umstände war etwas wirklich Schönes entstanden. Ohne Corona hätten sie alles so belassen bis in alle Zeiten, aber durch die Krise haben sie neu nachgedacht. Ob dieses Leben leichter war? Es erforderte mehr Vertrauen, das war klar. Nur war die Freude auch deutlich größer. Und Carola war enorm inspiriert worden durch die beiden. Sie fand sogar, dass sich etwas Weltbewegendes in ihr getan hatte.
Der Satz „Was ich aussende, bekomme ich zurück“, blieb bei ihr hängen. Er war ein wichtiger Schlüssel für ihr zukünftiges Schreiben. All die Liebe und die Freude, die sie in ihren Texten ausdrückte, würden zu ihr zurückkommen und sich irgendwann nicht nur auszahlen, sondern sich um ein Vielfaches vermehren. Sie würde klein anfangen, im Wohnzimmer von Leseliebhaberinnen. „Salonlesungen“ würde sie es nennen und dieses Angebot auf ihre und die gemeinsame Webseite setzen. Und ihre Schreibkolleginnen würden das auch anbieten, jede in ihrer Region. Sie würden sich zusammentun, darüber sprechen, in die Zeitung kommen, alles nicht hyperprofessionell, eher handgestrickt und mit Freude. Und vielleicht auch mit anderen AutorInnen gemeinsam. Das wäre das Allerschönste.
Sie glaubte nicht an Glück. Für sie bedeutete Glück zu haben, dass sie die Antworten ihrer Seele präsent wahrnahm. Sie wollte der Leichtigkeit in ihrem Leben Türen und Tore öffnen. Beim Schreiben konnte sie das lernen. Ihr einziger Job war es, in sich zu lauschen, zu vertrauen und achtsam zu sein.
Das Gleiche gilt für alle anderen Branchen und Tätigkeiten, da war sich Carola sicher. Small is beautiful. Es ist nicht einfach. Anfangs. Irgendwann ist es leicht.
Margit Thürauf © 2023-07-06
Diese Geschichte ist Teil der Kurzgeschichtensammlung „GESCHÄTZTES ALTER“ aus dem Jahr 2023