Achtzig Jahre später
Irene wurde an jenem Dienstag geboren, als die Waffen endlich schwiegen. Der Frühling zeichnete München weich, die milde Sonne fiel auf ausgebrannte Häuser und blühende Kastanien zugleich. Mit ihrem ersten Atemzug sog sie den Wunsch nach Frieden ein; selbst ihr Name stammte von Eirene, der griechischen Göttin des Friedens, ohne dass ihre Eltern es wussten. Irene trug ihr ganzes Leben lang diese Sehnsucht weiter, wie das Olympische Feuer.
Im Laufe ihres Lebens verbesserten sich die Lebensumstände stetig – Jahr für Jahr ein wenig. Als sie noch keine zwanzig Jahre alt war, träumten ihre Eltern bereits von einem Urlaub mit dem eigenen Auto in Italien. Sie selbst fühlte sich von der Friedensbewegung angezogen, hörte Blowing in the wind und Give Peace a Chance. Sie demonstrierte gegen den Vietnamkrieg und zugleich gegen die spießigen Moralvorstellungen jener Zeit. „Du solltest dich für deinen Aufzug schämen“, schimpften ihre Eltern und empörten sich über den fehlenden Büstenhalter. Für Irene war Frieden längst mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg. Frieden und Freiheit verschmolzen für sie zu einer untrennbaren Einheit.
Immer wieder lag Kriegsgefahr in der Luft. Bei der Kubakrise war sie 16, beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei 23 Jahre alt. Der Prager Frühling und der Traum vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz währte nur drei Monate. Ihre Eltern waren hochgradig angespannt. Vielleicht weil sie die Erfahrung einmarschierender Soldaten aus eigener Erinnerung kannten. Irene hingegen fixierte das ikonische Foto des jungen Mannes auf dem Wenzelsplatz in Prag, der mit entblößtem Oberkörper vor einem sowjetischen Panzer stand, auf die Soldaten einredete – zwar vergeblich, aber eindrucksvoll. Die Menschenmassen mit Fahnen, Transparenten und Plakaten, die sich den Panzern entgegenstellten, machten ihr Mut. Ihre Eltern sagten: „Das bringt doch alles nichts!“ Tatsächlich blieb ein Teil der Besatzungstruppen über zwanzig Jahre lang im Land.
Als die russischen Armeen in Prag einmarschierten, war Willy Brandt Außenminister. Er zog für sich aus den Ereignissen das Fazit: „Wandel ist nur möglich, wenn man ihn durch behutsame Annäherung fördert.“ Ein Jahr später war er Bundeskanzler, überzeugt davon, dass der Westen nicht aufrüsten, sondern mit kluger Diplomatie reagieren müsse. Mit seiner grundlegend neuen Ostpolitik war er offen in den Wahlkampf gezogen – und gewann. Es folgten die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen in Europa, das Ende der Praxis, diplomatische Beziehungen zu Staaten abzubrechen, die die DDR anerkannten, und schließlich die gegenseitige Anerkennung beider deutschen Staaten. Die neuen Reiseerleichterungen ermöglichten es vielen Heimatvertriebenen, nach Jahrzehnten erstmals wieder Angehörige im Osten zu besuchen – für sie ein Segen. Doch Franz-Josef Strauß sprach von einem „Verrat der deutschen Einheit“. Während viele Jüngere, wie Irene damals, mit Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ wollten, hielten viele Ältere an der bisherigen Politik der Abschreckung fest und empfanden Brandts Kurs als riskant, wenn nicht gefährlich an. Irene und ihr Vater stritten oft darüber. Fünfzehn Jahre später gestand er ein: „Ohne die mühsame Vorarbeit der Entspannungspolitik, wäre der friedliche Fall der Mauer nicht möglich gewesen.“
Doch Irenes Begeisterung erlitt einen schweren Dämpfer. Anfang der Achtzigerjahre war die Friedensbewegung stärker denn je, Hunderttausende gingen auf die Straße. Die größten Demonstrationen, die das Land je erlebt hatte, richteten sich gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen. Die politische Führung zeigte sich unbeeindruckt. Alle großen Parteien sprachen sich für die Aufrüstung aus. 1983 stimmte die Bundesregierung unter Helmut Kohl dem NATO-Doppelbeschluss zu. Irene fragte sich, ob ihr Vater am Ende doch recht hatte: Brachte Demonstrieren letztlich nichts. Sie konnte nicht fassen, wie wenig all das bewirkt hatte.
Sie zog sich ins Private zurück. Inzwischen war sie geschieden, hatte eine Tochter, versuchte, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Und sie bemühte sich um ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Beim zweiten Golfkrieg 1990 und während der Jugoslawienkriege war sich die Familie einig: Diese Konflikte waren gefährlich für den Weltfrieden – aber sie schienen weit entfernt. Im eigenen Land überwog die Euphorie über die friedliche Wiedervereinigung. In der weiten Welt gab es die eindeutig Guten und die eindeutig Bösen. Die Guten kämpften für einen gerechten Frieden.
Erst weitere zehn Jahre später, 1999, beim Bundeswehreinsatz im Kosovo, wurde Irene erneut wachgerüttelt. Der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wurde ausgerechnet von einer rot-grünen Regierung beschlossen. Außenminister Joschka Fischer sprach von einer moralischen Pflicht zum Eingreifen, um massive Menschenrechtsverletzungen zu verhindern – auch ohne ein UN-Mandat. Seine Aussage „Nie wieder Krieg – aber auch nie wieder Ausschwitz“empfand sie als polemische Zuspitzung. Sie zweifelte an der humanitären Begründung und vermutete, dass strategische Interessen der NATO unter einem moralischen Deckmantel verfolgt wurden. Für sie war es ein Dammbruch. Doch was konnte sie tun? Ihre Hilflosigkeit überwog.
Dann kam der 11. September 2001. Wie Millionen andere auch starrte Irene fassungslos auf die Bilder aus New York: Die brennenden Türme, die Menschen, die sich in den Tod stürzten – das alles ließ sich nicht mehr ignorieren. Sie verstand den Wunsch nach „Verteidigung“, nicht aber nach „Rache“. Für sie war Krieg nicht die Antwort. Die Welt sah das anders.
Die USA erklärten den „Krieg gegen den Terror“ und marschierten in Afghanistan ein. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte rief die NATO den Bündnisfall aus, was eine breite internationale Beteiligung auslöste. Auch Deutschland schickte Soldaten, diesmal mit UN-Mandat. In Irene spürte den alten Widerstand gegen Krieg erneut. Als Osama Bin Laden getötet worden war, verschob sich der Fokus. Es ging nun um Menschenrechte, Frauenbefreiung, Schulen und Brunnenbau. Alles schien ehrenwert – und alles schien ihr vorgeschoben zu sein. Vielleicht irrte sie sich. Nur eine Frage ließ sie nicht los: Wie hätte die Sicherheit in der Welt anders hergestellt werden können?
Sie las Bücher, sprach mit Freunden aus alten Friedenskreisen. Viele waren überzeugt: Sicherheit lasse sich nicht militärisch herstellen, weil sie von so vielen Seiten bedroht war – durch die Klimakrise, autoritäre Regime, durch wachsende soziale Ungleichheit. Irene fand das einleuchtend. Und doch fragte sie sich: War ein Terroranschlag in friedlichen Ländern nicht eine andere Dimension? Etwas, das die Maßstäbe verschob? Sie wollte nicht hinnehmen, dass Sicherheit jederzeit von blinder Gewalt bedroht sein könnte. Waren Militäreinsätze doch nötig, um das Kräftegleichgewicht wiederherzustellen?
„Gerade dann nicht!“, sagte ihre beste Freundin, Weggefährtin aus alten Zeiten und gemeinsam mit ihr alt geworden. Sie blieb dabei: Zum Frieden gehört untrennbar eine gerechte Weltordnung. Ungleichheit, Ausbeutung, systematische Benachteiligung – all das bereite den Boden für Unfrieden. Sie sagte: „Terrorismus ist ja kein Naturphänomen. Er entsteht durch kollektive Kränkungen und Demütigungen, die irgendwann zu viel werden. Dann geht es um verletzte Ehre, um Ideologien.“ Wer die Hintergründe genauer betrachtete, sah die Welt mit anderen Augen. Am meisten überzeugte Irene schließlich die Erkenntnis, dass ewige Konfrontation keine Sicherheit bringt.
Und gab ihr die Entwicklung nicht Recht? 2004 der Anschlag islamistischer Gruppen in Madrid, 2015 traf es Paris und das Bataclan. Zehn Jahre lang Terrorgefahr. Als der Afghanistan-Krieg 2021 – nach zwanzig Jahren – abrupt endete, saß Irene bedrückt auf ihrem Sofa. Krieg löst nichts. Zwei Jahrzehnte, Milliarden an Mitteln, tausende Tote – wofür? Die großen Worte, mit all das einst gerechtfertigt wurde, verdampften rückblickend wie heiße Luft.
Ein halbes Jahr später marschierten russische Truppen in der Ukraine ein. Da war Irene 77 Jahre alt. Wieder Krieg in Europa, noch während ihrer Lebenszeit! Die Bilder von bombardierten Wohnhäusern, von Mariupol, die Berichte von entführten Schulkindern – das war schwerer zu ertragen als vorher. Diesmal war kein entferntes Land betroffen, diesmal musste sie Stellung beziehen. Die Menschen um sie herum wirkten genauso sprachlos wie sie.
Die Politik sprach von einer „Zeitenwende“ und es wurde offen das Wort „kriegstüchtig“ verwendet. Die Gründe: Friedenssicherung, das Recht auf Selbstverteidigung, der Schutz der Menschenrechte. Wieder ging es darum, dass ein anderes Land stellvertretend die Grenzen Deutschlands und der EU verteidigt. Irene kannte dieses Argument. Der Krieg im Norden Malis gefährdete auch unsere Sicherheit! Die deutsche Sicherheit wurde am Hindukusch verteidigt. Irene fragte sich: Ist das wirklich der einzige Weg?
Hin- und hergerissen zwischen der Erinnerung an Brandts bedachte Friedenspolitik und der bedrohlichen Rhetorik in den Nachrichten war sie wochenlang wie paralysiert. Sie konnte nicht darüber sprechen, was in ihr vorging. Nicht einmal mit ihrer Tochter oder ihrer Enkelin. Sie kaufte Vorräte, einen Campingkocher, Batterien. Sie rang mit sich. Vielleicht musste man der Ukraine helfen – auch wenn es gefährlich war. Sie fand es falsch zuzusehen, wenn ein Land überrannt wird. Was ihr noch mehr Kopfzerbrechen bereitete, war nicht das, was gefordert wurde, es war die Energie, mit der es vorgetragen wurde: Die Unversöhnlichkeit, die Ideologie und der wachsender Kampfeswille. Dieser Ton war ihr bekannt.
Gerade diese Haltung stachelte sie an und gerade deshalb weigerte sie sich, sich der öffentlichen Meinung anzuschließen. Ging es wirklich um Demokratie und Menschenrechte? Für sie klang es mehr nach Interessen und um Macht. Das alte Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ klang nun trotzig. Denn dieses Mal schien sie mit ihrer Ansicht allein zu stehen. Sie wurde nicht nur in ihrer Kirchengemeinde wurde sie als Putinfreundin angesehen, auch ihre geliebte Enkelin griff sie an.
Seit Carla selbst ein Baby erwartete, besuchte sie Irene häufiger. Gemeinsam saßen sie dann am Esstisch, tranken Tee und aßen Kuchen und sprachen über Gott und die Welt. In der letzten Zeit ging es nur noch um den Krieg.
„Oma, du verstehst das nicht!“, sagte Carla. „Wenn wir die Ukraine jetzt allein lassen und keine Waffen liefern, verlieren wir alles, was du dir erkämpft hast: Freiheit, Demokratie – das ist nicht verhandelbar. Dem muss militärisch Einhalt geboten werden!“
Irene kannte diese Argumente gut. In den Medien und der Politik wurde unisono so gesprochen. Sie hielt sich keineswegs für naiv. Im Laufe ihres Lebens hatte sie gelernt: Je eindeutiger in Gut und Böse unterschieden wurde, desto berechtigter war ein genaueres Hinsehen. „Jeder Militäreinsatz endet einmal und spätestens dann muss mit den Feinden gesprochen werden“, beharrte sie.
Carla war aufgebracht: „Mit Putin kann man nicht verhandeln. Der hält sich an keine Verträge, das siehst du doch. Deine Einstellung ist gefährlich! Schwäche fordert ihn nur noch mehr heraus!“
Irene hasste es, wenn dieser aggressive Tonfall auch in ihre privaten Gespräche einzog. Trotzdem konnte sie die Worte ihrer Enkelin nicht unwidersprochen lassen. Um einen freundlichen Ton bemüht sagte sie:
„Gebrochenes Vertrauen bedeutet nicht, dass Vertrauen falsch oder unmöglich ist. Auch im Privaten endet eine Beziehung dann nicht automatisch. Der Vertrauensbruch macht nur wach für die Realität der Bedingungen.“
Damit hatte Irene in ein Wespennest gestochen. Carla reagierte betroffen. Ihr Freund, der Vater ihres Kindes, hatte sie während ihrer Schwangerschaft betrogen und sie überlegte, ob sie sich von ihm trennen wollte. Die Frage, ob sie ihm je wieder vertrauen könnte, quälte sie. Doch darüber wollte sie im Moment nicht sprechen.
„Gespräche und gegenseitiges Zuhören bedeuten ja nicht Schwäche – eher Weitsicht“, sagte Irene vorsichtig. „Diplomatie bedeutet ja nicht Kuschelkurs. Gerade wenn die Absichten diametral auseinander liegen, braucht es wache Augen, klare Worte, feste Standpunkte.“
Carla schaute ihre Großmutter unentschlossen an.
Auch Irene war in Gedanken. Wo war der sichtbare, starke Wunsch der Bevölkerung nach Frieden geblieben? Gab es ihn überhaupt noch? War die Welt bereit dafür? Sie erinnerte sich an bewegende Friedensmomente: Dem Kniefall Willy Brandts in Warschau, der Fall der Berliner Mauer, als sich die Menschen in den Armen lagen und nicht glauben konnten, was geschehen war. Wind of Change – hieß das Lied, das damals in der Luft lag.
Nach einer Weile sagte Irene: „Weißt du Carla, ich bin nicht gegen Selbstschutz. Ich bin gegen die Illusion, dass Waffen Sicherheit bringen. Vielleicht müssen wir manchmal um etwas kämpfen – aber wir dürfen nie vergessen, worum es eigentlich geht. Frieden beginnt immer mit Gesprächen. Das ist mühsam, das dauert lange. Aber man darf auch mit schwierigen Partnern den Kontakt nicht abreißen lassen.“
Carla fragte: „Und wie sollte man denn deiner Meinung nach mit Menschen umgehen, die einseitig Vereinbarungen brechen und ihre Grenzen immer weiter zu ihren eigenen Gunsten verschieben?“
„In der Politik?“, fragte Irene. „Als Willy Brandt mit seiner Ostpolitik begann, traute niemand dem Osten, auch er nicht. Und privat? Ich habe heute ein gutes Verhältnis zu deinem Großvater, nicht weil ich ihm vertraue, sondern weil ich ein gutes Verhältnis zu ihm haben will. Und ich hatte mit meinem Vater am Ende ein gutes Verhältnis, nicht weil wir einer Meinung waren, sondern weil ich ihn geliebt habe und ich ihm das zeigen wollte. Es ist immer dasselbe: Vertrauen steht nicht am Anfang. Vertrauen ist das Ergebnis vieler kleiner Schritte. In besonders schweren Momenten hat mir immer der Satz geholfen: »Frieden schließt man immer mit seinen Feinden.«
Carla sagte nichts dazu. Ihre Großmutter und sie waren nicht einer Meinung, aber sie hatten sich angenähert. Das war es, worauf es ankam.
Vieles von dem, was Irene in dem Gespräch gesagt hatte, war ihr vorher selbst nicht klar gewesen. Sie wollte sich nicht durchsetzen, sondern verständlich machen. Konnte man mit dieser Einstellung auch in der hohen Politik an Gespräche herangehen?
Das Ende der Apartheit in Südafrika fiel ihr ein. Nelson Mandela und Präsident de Klerk fanden durch Gespräche den Weg, ein demokratisches Südafrika aufzubauen. Oder Nordirland, das lag ja noch viel näher. Dort hatte dreißig Jahre lang Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten geherrscht und auch diese Gewalt konnte durch das Karfreitagsabkommen beigelegt werden. Zwei starke Beispiele, die ihr sofort einfielen. Doch es gab noch mehr: Ohne Gespräche mit Feinden gäbe es keine deutsch-französische Freundschaft, keinen Polenurlaub, kein vereinigtes Deutschland – und vor allem nicht achtzig Jahre Frieden im Land.
Ihr 80. Geburtstag stand vor der Tür. Etwas ruhiger und unglaublich dankbar für die Gnade ihres langen guten Lebens, blickte Irene zurück. Frieden durfte man nie als etwas Erreichtes betrachten. Es würde weiterhin Rückschläge und Fortschritte geben. Frieden musste immer wieder neu gedacht werden und er blieb eine Entscheidung, jeden Tag aufs Neue. Ein bisschen Frieden reichte nicht. Auch wenn das Thema Frieden noch nicht als reelle Option in den Herzen der Menschen angekommen war – es war auch nicht untergegangen. Es musste nur immer wieder in den Fokus gerückt werden.
An jenem Tag, als sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum achtzigsten Mal jährte, wurde ihr Urenkelkind geboren. Frieden und Freiheit waren zwei Grundvoraussetzungen, damit dieses neue Menschlein glücklich leben konnte.
Irene würde nie müde werden, daran nach Kräften mitzuwirken. Doch ihr war auch klar: Das olympische Feuer wurde in einem Stafettenlauf weitergetragen. Sie würde die Fackel an Jüngere weitergeben, jedoch nicht, ohne das Feuer noch einmal sorgfältig genährt zu haben.